Warum ist Würde cool?

Neulich an einem schönen Sommerabend am Rhein mit einem guten Freund. Wir genießen ein kühles Getränk, schauen den wunderschönen Sonnenuntergang und philosophieren über das Leben, wie wir es ab und an gerne machen. Und plötzlich ist die Würde unser Thema. Mein Freund sagt: „Coolness ist, wenn man unter Stress, Druck oder Anspannung nicht die Würde verliert.“

Würde, ein großes Wort. Was ist Würde?

Zunächst ist es ein im Grundgesetz festgelegtes Recht aller Menschen: In Artikel 1 (1) steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Oder anders formuliert: Jeder Mensch ist einzigartig und hat in dieser Einzigartigkeit eine bedingungslose, unantastbare und unvergängliche Würde. Menschenwürde bedeutet, dass jeder Mensch wertvoll ist, weil er ein Mensch ist. Das reicht als Anspruchsvoraussetzung, würdevoll behandelt werden zu wollen. Ein menschenwürdiges Leben ist durch dieses Verständnis klar umrissen und geprägt von Wertschätzung, Achtung, Respekt und Freiheit.

In der Philosophie nennt Immanuel Kant die Autonomie des Menschen, frei wählen zu können, wie er/sie sich verhalten und handeln will, als grundlegende Würde des Menschen.

Ich möchte Würde gerne verstehen als Möglichkeit, zu leben und zu sein, wie ich sein möchte. Also so, wie ich mich authentisch fühle und mich in all meiner Lebendigkeit zeigen möchte.

Ein, wie ich finde, schönes Video zu Würde ist dieses von der Robert Bosch Stiftung anlässlich einer Inititative zum 70-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes:

Würde als Leitplanke für ein menschliches Leben

In meinen Klienten-Beratungen biete ich Würde als mögliche Werte-Orientierung für Verhaltensentscheidungen an. Würde auch als richtungweisendes Regulativ, um eine gesunde Balance zwischen konkurrierenden Bedürfnispolen zu finden. Beispielsweise, wenn es um ein stimmiges Verhältnis der Bedürfnisse nach Autonomie und Verbundenheit zueinander geht. Viele meiner Klienten sind zunächst irritiert, weil sie sich bisher noch nie mit ihrer Würde auseinandergesetzt haben. Insbesondere nicht im Zusammenhang mit der Klärung ihrer momentanen Themen, Fragen und Anliegen. Meines Erachtens ein Fehler. Für die Erlangung innerer authentischer Klarheit geht es im Kern in beinahe allen Anliegen auch um Würde. Authentizität und Würde sind in meinem o. g. Verständnis untrennbar miteinander verbunden.

Wie kommt es, dass wir so würdelos geworden sind?

Die eingänglich zitierte Aussage meines Freundes lässt mich nicht mehr los. Auch weil ich seit geraumer Zeit ein zunehmend würdeloses Verhalten in alltäglichen Situationen wahrnehme. Da beschimpft ein Passant lautstark einen anderen wegen eines falsch abgestellten Fahrrades. In der Kassenschlange im Supermarkt kommt es gelegentlich zu Tumulten mit beinahe handgreiflichen Auseinandersetzungen. Mobbing, auch eine Form aggressiver Würdelosigkeit, scheint statistisch betrachtet zur Tagesordnung zu werden. Häusliche Gewalt ist weit verbreitet. In den Social-Media-Kanälen sind Diffamierung, Verleumdung und aggressive Shitstorms alltägliche Phänomene. All das ist gegenteilig zu Coolness und Würde im oben zitierten Sinne. Die Nerven scheinen bei immer mehr Menschen blank zu liegen.

Dafür gibt es viele Erklärungsansätze. Zunehmende Ohnmachtsgefühle und Zukunftsängste in einer von existenziellen Krisen und epochalem Wandel gekennzeichneten Welt werden u. a. als Grund für weit verbreitete Angst, Wut und Aggression angeführt.

Ja, das ist eine ursächliche Komponente. Ich möchte eine hinzufügen. Egal ob im Privatleben oder im Job, eine Zeit, in der Menschen beinahe im Sekundentakt mit Veränderungen, Neuerungen und existenziellen Krisen umgehen und sich flexibel anpassen müssen, bedeutet, dass sie ebenso oft Abschiede und Verluste von Vertrautem zu bewältigen haben. Jede Veränderung bedeutet, vertraute, gewohnte, und geliebte Menschen, Dinge, Kontexte, Strukturen und Routinen hinter sich lassen zu müssen.

Wer nimmt die damit einhergehenden Unsicherheiten und die innere Not wahr? Mein Gefühl ist, kaum jemand! Ein großes gesellschaftliches und leider auch organisatorisches Tabu. Gerade hier liegt aber ein Schlüssel für einen würdevollen, vielleicht sogar coolen ;-), Zeitenwandel.

Weshalb ist es wichtig, Abschiede und Verluste zu würdigen?

Verluste und Abschiede sind schwer verdauliche Kost für Menschen. Sie zählen zu sogenannten kritischen Lebensereignissen mit zum Teil traumatisierender Wirkung. Nicht selten mit posttraumatischen Belastungsstörungen als Folgeerscheinung.

Der Verlust eines nahen Menschen durch Tod oder die Trennung von einem geliebten Menschen zählen zu den Ereignissen mit häufig traumatischem Erfahrungscharakter. Ereignisse, die alltäglich passieren. Eine sich grundlegend verändernde, instabile und wenig verbindliche Beziehungskultur sowie die Corona-Epidemie tragen bzw. trugen zu einer Häufung dieser Erfahrungen bei. Die Menschen waren und sind oft mit Ihrer Trauer und ihrem Schmerz allein gelassen und sollen möglichst schnell wieder funktionieren.

Verluste durch Naturkatastrophen, Kriegserleben, Gewalt, … sind angesichts von Klimakrise, Ukraine-Krieg und zunehmender Gewaltbereitschaft für immer mehr Menschen auch hierzulande reales Erleben geworden. Das sind schwere Traumata, die mehrere Generationen nachwirken werden und unbedingt Würdigung und professionelle Begleitung erfordern.

Die beinahe revolutionär anmutenden erwartbaren Veränderungen durch Künstliche Intelligenz in vielen Lebens- und Arbeitskontexten werden Jobverluste, Sinnkrisen und grundlegende existenzielle Veränderungen, vielleicht auch den Abschied von gewohntem Lebensstandard, nach sich ziehen. Kaum eine Organisation thematisiert die damit verbundene psychische Belastung, oder bietet Unterstützung bei der Bewältigung.

Der Verlust von Gesundheit durch eine plötzliche Diagnose, möglicherweise mit nur noch begrenzter Lebenserwartung, bedeutet nicht nur für den Betroffenen einen schweren Abschied, sondern auch für die Angehörigen. Hier gibt es vielleicht schon die meisten Angebote für einen würdevollen Umgang damit. Und doch fühlen sich viele Menschen damit allein gelassen.

All diese Ereignisse lassen sich nicht mal eben nebenbei bewältigen. Sie brauchen individuell unterschiedlich lange Zeit für eine gesunde Bewältigung. Das notwendige und unabänderliche Neue kann erst danach wachsen.

Wut, Angst und Aggression sind natürliche Reaktionen der Verzweiflung darauf und Ausdruck psychischer Überlastung. Sie sind auch Zeichen von Lebensenergie und Lebenswille. Ein Mensch, der an einer Depression erkrankt ist, hat diese Energie nicht mehr. Insofern ist die hohe Reizbarkeit vieler Menschen immerhin noch als positive Energie zu werten, die einen falschen Ausdruck findet.

Verzweiflung und Überlastung, sind besonders dann groß, wenn die mit Verlustsituationen verbundene innere Not nicht gesehen, zugestanden, empathisch und mit der nötigen Geduld würdevoll begleitet wird. Und da fehlt sie eben, die Würde. Stattdessen gilt es, schnell das neue Normal zu realisieren. Nach wenigen Wochen und Monaten bekommen Betroffene zu hören „Du musst jetzt aber auch mal wieder zurückfinden in den Alltag!“ Das ist würdelos!

Weil ich einen Beitrag zu einem menschlicheren Leben leisten möchte und ich den würdevollen Umgang mit Verlusten für einen zunehmend wichtigen Beratungsauftrag halte, habe ich mich nun auch für diese Thematik qualifiziert und eine intensive einjährige Fortbildung „Professionalisierte Trauerbegleitung und Verlustbewältigung“ an der Universität Essen/ Duisburg absolviert und erfolgreich abgeschlossen. Ich freue mich auf die würdevolle Begleitung von Menschen, privat und beruflich, in Trauer-und Verlustsituationen jeglicher Thematik.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Vergessen wir das niemals und besinnen wir uns in unserem alltäglichen Verhalten darauf.

Das wäre doch tatsächlich cool, oder?

*************

Und hier noch ein Hinweis auf eine Initiative, für die ich ab sofort ehrenamtlich tätig bin. Eine inzwischen in Düsseldorf sehr erfolgreiche Initiative, die sich auf eine besondere Art und Weise für ein würdevolles Füreinander einsetzt:

ZUHÖREN.DRAUSSEN

Vielleicht hat ja jemand von euch Interesse, sich aktiv oder passiv dafür zu engagieren.