Ein Plädoyer für die Kunst in schweren Zeiten

Vergangene Woche war ich zur Eröffnung der neuen Ausstellung „Please Touch!“ von Tony Cragg im Düsseldorfer Kunstpalast eingeladen. Ein sehr schöner Abend. Nachdem die Ausstellung offiziell für eröffnet erklärt war, konnten wir alle als erste Besucher diese großartige Sammlung der Skulpturen sehen. Und wir konnten sie im wahrsten Sinn des Wortes sinnlich erfahren. Das Berühren der Skulpturen ist in dieser Ausstellung ausdrücklich erlaubt und erwünscht. Ein Novum in der Geschichte der Kunstausstellungen.

Kunst hautnah zu erleben und sich ihr bis zur Berührung anzunähern, eröffnet neue Perspektiven und erweitert das Spektrum dessen, was Kunst im Menschen ohnehin auslösen kann. „Das fühlt sich kalt an“, „Ich mag es, das Material zu spüren“, „Das erinnert mich an das Gefühl damals als ich …“, „Das habe ich noch nie gemacht“, „Jetzt erkenne ich erst, dass …“ und viel mehr solcher Äußerungen konnte ich zwischendurch auffangen. Kunstwerk und BetrachterIn schienen zu verschmelzen. Eine Form des Kunsterlebens, bei dem nicht nur die Kunst berührt wird, sondern auch die Menschen berührt sind und ihre bisherige Sicht auf Kunst verändern. Und wer weiß, vielleicht verändern sich auch die Kunstwerke mit der Zeit durch die zahlreichen Berührungen.

Warum erzähle ich das?

Mir fielen die durchweg freudigen, lebendigen, offenen und neugierigen Gesichter der BetrachterInnen auf. Anders als zurzeit im alltäglichen Straßenbild, wo ich zunehmend in angespannte und von Sorgen und Ängsten gekennzeichnete Gesichter schaue. Anders auch als meine KlientInnen, die ich von Zukunftsängsten geplagt und dadurch verengt in ihren Handlungsspielräumen erlebe. Die an diesem Abend gemachten Beobachtungen bestätigten mich in meiner Überzeugung, dass Kunst für einen Moment aus der Ödness so manchen Alltags und aus den bedrohlichen und Angst auslösenden Aspekten der gegenwärtigen Weltlage entführen und positive Energie stiften kann. Keiner der BesucherInnen scheute die neue Erfahrung des Kunsterlebens. Niemand hatte Angst vor dem neuen bis dato unbekannten Erleben. Vielmehr machte es allen sichtbar Freude, sich auf neue Sichtweisen einzulassen und loszulassen von den bisherigen Vorstellungen und Erfahrungen mit Kunst.

Der größte momentane Verlust, die Zukunft

Geht es nicht genau darum in unserem momentanen Erleben der Realität auch? Eine Welt, die im vollständigen Umbruch ist, braucht unsere Bereitschaft und Neugier, Neues entdecken zu wollen. Denn unsere Zukunft entwickelt sich gerade anders als wir sie geplant haben. Das Leben ist keine Geradeausstrecke mehr, auch wenn wir fest daran geglaubt haben, dass es so sei und bleiben wird. Wenn uns aber die vertraute Gegenwart zerbricht, zerbricht gleichzeitig auch unsere bisherige Vorstellung von der Zukunft. Die erwartete Zukunft zu verlieren ist wohl in allen Verlustprozessen am schmerzhaftesten und schwersten verkraftbar. Das, worauf wir für unser weiteres Leben vertraut haben, erweist sich dann als hinfällig. An die Stelle tritt zunächst ein großes Nichts, für dessen Auflösung alte Strategien nicht tauglich und neue noch nicht gefunden sind. Und das macht Angst und fordert uns heraus, zu experimentieren und uns auf bisher unbekanntes neues Terrain zu wagen. Neue und zum Teil noch nicht vorstellbare Szenarien zeichnen sich ab. Wir müssen uns darauf einstellen, bisherige Vorstellungen loslassen und Neues entstehen lassen.

Unterwegs mit dem Zug des Lebens

Mir scheint, es ist momentan beinahe so, als ob wir eine Reise geplant hätten und wir in den Zug, der uns an unser Ziel bringen soll, eingestiegen sind, unterwegs geschlafen haben und beim Erwachen erkennen müssen, dass der Zug ganz woanders hingefahren ist. Aus unserem vielleicht geplanten und von vielen Reisen dorthin vertrauten Ziel Köln ist beispielsweise der Zielort Hamburg geworden. Und das ohne Chance auf einen Zug von Hamburg zurück nach Köln. Den gibt es nicht mehr. Er ist aus dem Fahrplan gestrichen worden.

Angenommen, wir waren noch nie in Hamburg, dann müssen wir uns jetzt mit den für uns bisher fremdem Gepflogenheiten und Mentalitäten dort, den neuen Lebensbedingungen, den uns unbekannten Bewohnern der Stadt etc. vertraut machen und uns eine neue Existenz unter den dortigen für uns neuen Bedingungen erschaffen. Eine bisher so nicht geplante Zukunft. Da hilft es wenig, unserer köllschen Lebenswelt leidvoll nachzutrauern und uns damit zu beschäftigen, wie wir sie wiedererlangen können. Der Zug ist, wie gesagt, abgefahren. Er ist endgültig aus dem Fahrplan gestrichen. Unsere Zukunft findet dort nicht mehr statt. Sie ist zur Illusion geworden.

Und wenn aus Köln Hamburg geworden ist, haben wir Glück gehabt. Es scheint vielmehr, als ob der Zug, in dem wir momentan sitzen, uns an einen deutlich unwirtlicheren Ort fährt. Eine Fahrstreckenänderung ist noch möglich, aber nur wenn die Fahrgäste des Zuges neugierig, offen, kreativ, experimentierfreudig, mutig und selbstbewusst aktiv Einfluss nehmen auf die Zugstrecke. Anstatt sich zu ärgern, aufzuregen, zu ängstigen, oder gar zu leugnen, dass der Zug in eine ungeplante Richtung fährt. Oder sogar zu glauben, alles ginge weiter wie bisher und niemand müsse etwas ändern.
Aber wie und woher können die Fahrgäste diese Energien erlangen?

Die Kunst, beinahe ein Allheilmittel

Da fällt mir u. a. wieder die Kunst ein. Ich bin überzeugt, dass die Auseinandersetzung mit Kunst, egal ob wir sie betrachten oder selbst künstlerisch aktiv werden, zu neuen Ideen inspirieren kann. Nicht selten war die Kunst Wegbereiter epochalen Wandels. Neue Strömungen in der Kunst gingen meist einher mit umwälzenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen. Es macht Spaß und ist bereichernd, sich mit der Kunstgeschichte zu beschäftigen. Dafür müssen wir nicht studieren. Bücher, Podcasts, Filme, die mediale Welt hält für jeden einen individuell passenden Zugang dazu bereit. Viele Künstler-Biografien sind nicht nur spannend, sondern geben Zeugnis von der jeweiligen Zeit und ihren Wirren. Selten waren deren Lebenswege gradlinig. Wie so oft in der Geschichte sind gerade deshalb neue Kunstrichtungen entstanden und haben den gesellschaftlichen Wandel gestärkt.

Kunst kann aber auch nur erfreuen und damit zur Erhellung einer spürbar angespannten Stimmungslage beitragen. Manchmal gehe ich mit KlientInnen ins Museum und wir betrachten ein vorab von mir ausgewähltes Bild oder ich lasse die KlientInnen entscheiden. Dann gehen wir in den Austausch darüber, was das Kunstwerk bei ihnen auslöst, welche Gefühle und Gedanken auftauchen und was diese vielleicht für ihre gegenwärtige Situation bedeuten können. Immer entsteht ein neuer Blick und die immergleichen und wenig hilfreichen Gedankenkreisläufe werden unterbrochen. Meist verbunden mit spürbar gewachsener Zuversicht in die eigenen Ressourcen. Zuversicht wiederum erleichtert es, daran zu glauben, selbstwirksam handeln und gestalten zu können. Das ist dann wieder Vertrauen ins Leben. Auch und besonders in schweren Zeiten. Ohne diese Zutaten fühlen wir uns ohnmächtig ausgeliefert. Das Gegenteil von selbstwirksamer Gestaltungskraft. Natürlich kann jeder auch allein die Kraft der Kunst nutzen. Eine Mittagspause im Museum kann beispielsweise für eine kurze Zeit aus dem stressigen Alltag entführen und neue Energie und Ideen für die weiteren Aufgaben des Tages geben.

Kunst ist manchmal kontrovers, provokativ und verstörend und zwingt damit zur unbequemen Auseinandersetzung mit zentralen Lebensfragen. Gerade das Störende und Verstörende, das, was wir nicht wollen, ist nicht selten der Ursprung für die Geburt von gänzlich neuen und guten Lösungen. Erst Reibung schafft zündende Energie. Wie bei Kindern. Störenfriede sind anstrengend. Sie haben meist aber dahinter ein ernst zu nehmendes Bedürfnis nach Veränderung gepaart mit guten neuen Ideen, wie es besser ginge. Daraus können Wendepunkte im Denken, Fühlen und Handeln werden. Wendepunkte, die in Zeitenwenden unerlässlich sind. Dann wenn Schwarz und Weiß nicht ausreichen, sondern das gesamte Farbspektrum mit all seinen Nuancen erst die Vielfalt der Möglichkeiten erkennbar werden lässt. Kunst macht es leicht, sich mit Freude auf vollkommen neue, vielfältige und bunte Sichtweisen einzulassen. Ohne Angst und Scheu davor. Eine echte Zukunftskompetenz. Kunst hat nicht den Auftrag schön zu sein. Auch ein Werk, dass wir zunächst ablehnen, mit absoluter Präsenz auf sich wirken zu lassen, kann fruchtbare innere Wendepunkte auslösen.

Kunst wirkt inspirierend und fördert kreative Fähigkeiten. Wenn bisherige Erfahrungen nicht mehr helfen eine noch unbekannte Zukunft zu gestalten, sind kreative Fähigkeiten unerlässlich. Wo sind sie besser zugänglich als in der Auseinandersetzung mit dem kreativsten Element, der Kunst? Und wo macht es mehr Spaß, sie zu entdecken? Wir sollten endlich abrücken von der weit verbreiteten Meinung „Das ist nichts für mich“. Damit verhindern wir die Erfahrung, wie schön es sein kann, sich mit allen Sinnen kreativ auszuprobieren. Am besten auch einmal, indem wir uns trauen, selbst so richtig in Farbe, Materialien und das kreative Tun einzutauchen. Es ist doch egal, was am Ende daraus wird. Es reicht doch, wenn es Spaß macht und sich dabei unser enges Korsett des Perfektionsstrebens lockert und der innere Richter auf einen Platz in den hinteren Reihen verwiesen wird. Etwas völlig Neues zu tun, ist zwar wie der Sprung in kaltes Wasser, aber meist mit der Erfahrung gekoppelt, dass wir auch in kaltem Wasser schwimmen können. Sich zu trauen, etwas gänzlich Neues zu tun, nimmt die Angst vor Kaltwasser-Erfahrungen im sonstigen Leben. Es entsteht ein „Ich kann doch“. Das brauchen wir gerade jetzt dringend. Vielfältige Angebote seitens der Museen, Kreativ-Reiseveranstalter, Workshops, Sommerakademien etc., sie alle stehen jedem offen, sich kreativ auszuprobieren.

Kunst bringt uns unseren Gefühlen näher. Fühlen zu lernen, das kann durch Kunst leichter werden. Wir können uns nicht nur sachlich verhalten. Bei allem, was wir tun, sind immer Gefühle im Spiel. Und so löst auch jedes Kunstwerk Gefühle aus. Mit und durch Kunst können wir auf besondere und schöne Weise lernen, uns besser zu spüren. Gefühle sind eine wichtige Leitplanke im Leben für gute Richtungsentscheidungen und notwendige Grenzziehungen. Ohne sie fährt der Zug unkontrolliert und ohne richtungweisende Weichenstellungen und die Passagiere sind passiv dem Zielort ausgeliefert. Wer besser fühlen kann, kennt sich selbst besser. Und wer sich selbst gut kennt, weiß, was jetzt wichtig ist und kann sein Leben wirksam gestalten. Auch wenn die Fahrstrecke gerade steinig und rumpelig ist.

Kunst kann ein Weg sein, Vertrauen ins Leben zu gewinnen. Das brauchen wir alle gerade jetzt dringend.

© Julitta Rössler