Von der Ohnmacht in die Wirkmacht

Ich kaufe gerne auf dem Wochenmarkt in meinem Viertel ein. An „meinem“ Gemüsestand unterstützt freitags der Sohn die Familie beim Verkauf. Er ist ein junger Mann, schätzungsweise im Alter von etwa Mitte bis Ende der zwanziger Jahre. Wenn nicht viel los ist, unterhält er sich gerne und tiefgründig mit seinen Kunden über Themen, die die Welt bewegen. So entspann sich bei meinem letzten Einkauf wieder ein interessantes Gespräch über den Wandel der Welt, die aktuellen Krisen und mögliche Zukunftsszenarien. Ich fragte ihn, wie er als junger Mensch in die Zukunft blicke und ob er Zukunftsangst habe. Seine Antwort: „Nein, ich habe keine Angst. Ich freue mich auf die Veränderungen. So wie jetzt können wir nicht weitermachen. Der Übergang in das Neue wird sicher kein gemütlicher Spaziergang, aber ich bin sicher, dass wir Veränderungen zum Besseren gestalten können.“ Ich war überrascht und beeindruckt, hatte ich doch gerade kürzlich erst gelesen, dass die junge Generation pessimistischer geworden ist.

Warum erzähle ich das?

Vor noch nicht einmal 20 Jahren wurde das erste iPhone vorgestellt. Noch in den 80er und beginnenden 90er Jahren kannten wir kein Internet und keine Social Media. Wir gingen in Geschäfte einkaufen und wussten nichts von Online-Shopping und Lieferdiensten. Dating-Portale gab es nicht und wir glaubten an die eine romantische Beziehung, ohne eine blassen Schimmer von den vielfältigen neuen Beziehungs- und Lebensformen zu haben. Es gab Arbeitszeiterfassung und Nine-to-Five-Anwesenheitspflicht im Arbeitsleben anstatt Home-Office und flexibler Arbeitszeit. Das Familienleben folgte klaren Rollenverteilungen und Mütter, die arbeiten wollten, galten als Rabenmütter. Sie brauchten bis 1975 die Erlaubnis des Ehemannes, wenn sie arbeiten wollten. Unfassbar aus heutiger Sicht!

Schon beim Schreiben dieser Auflistung, die sich beliebig fortsetzen ließe, wird mir schummrig, wenn ich mir vorstelle, wie rasant sich in der jüngsten Menschheitsgeschichte unser Leben verändert hat. Und das Tempo wird immer schneller. Allein die Möglichkeiten und Wirkungen von Künstlicher Intelligenz werden vermutlich einer Revolution gleichkommen und unser Weltbild auf den Kopf stellen, nicht nur in der Arbeitswelt.

Damit aber nicht genug. Klima-Notstand, Kriege, gesellschaftlicher Wandel, politische Unwägbarkeiten etc. kommen dazu. Ich erspare mir detaillierte Schilderungen. Darüber können wir uns alle tagtäglich mehr als verkraftbar informieren.

Noch nie war die Welt so kompliziert und der Wandel so schnell wie momentan. Die Menschen blicken verschieden darauf. Hoffnungsvoll und positiv, wie der junge Mann, aber auch voller Angst und Abwehr, wie viele Skeptiker. Egal wie unsere Haltung ist, wir müssen lernen damit umzugehen, dass wir bekannte Lebensweisen und eine vertraute Welt verlieren an eine noch völlig unbekannte Zukunft. Eine unbekannte Zukunft, die sich nicht erst in Jahrzehnten, sondern vermutlich in deutlich weniger als den nächsten zehn Jahren ausformen wird.

Was bringt uns gerade jetzt weiter?

Dies ist der dieses Jahr letzte Newsletter vor dem bevorstehenden Weihnachtsfest. Das Weihnachtsfest ist das Fest der Liebe und der Hoffnung, also ein positiv nach vorne gerichtetes Fest. Deshalb ein paar Gedanken und Ideen dazu, wie wir die Feiertage und den Jahreswechsel vielleicht dazu nutzen können, uns wirkmächtig und positiv nach vorne gerichtet einzustimmen auf ein sicher wieder anspruchsvolles nächstes Jahr des Wandels. Es geht darum, den Blick aktiv auf unsere Möglichkeiten, Fähigkeiten und Stärken richten zu können. So, dass wir uns den Geschehnissen nicht hilflos ausgeliefert fühlen, sondern uns stattdessen selbstwirksam gestaltend erleben. So, dass aus dem Gefühl der Ohnmacht eine spürbare Wirkmacht werden kann.

In den Worten des jungen Mannes steckt alles, was es uns möglich macht, selbstwirksam und handlungsfähig zu bleiben auch in herausfordernden Zeiten. Dazu brauchen wir Zuversicht im Sinne des Glaubens an Möglichkeiten, ein gutes Ergebnis gestalten und ein positives Ziel erreichen zu können. Zuversicht ist die Basis für das Gefühl, selbst aktiv und wirksam Veränderung gestalten zu können. Zuversicht und Selbstwirksamkeit sind zwei Aspekte der Resilienz. Resilienz bedeutet, sich unter Rückgriff auf eigene Ressourcen immer wieder flexibel an veränderte Gegebenheiten anpassen zu können.

Was konkret können Quellen von Zuversicht und Selbstwirksamkeit sein?

Zunächst gilt das Prinzip der kleinen Schritte. Konzentriert euch auf das, was euch jetzt möglich ist, ohne euch zu überfordern.

Sucht den Kontakt zu zuversichtlichen und aktiv gestaltenden Menschen und geht auf Distanz zu den ewigen Nörglern und Skeptikern.

Achtet bewusst auf eigene kleine Erfolge. Eigene Erfolgserlebnisse fördern Zuversicht und Zutrauen in die eigenen Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten und erhöhen die Fähigkeit, mit Widrigkeiten im Leben umgehen zu können

Schreibt euch die kleinen Erfolge täglich auf. Schreiben klärt und öffnet neue Perspektiven. Schreiben hilft, Ängste zu regulieren und Sorgen loszulassen.

Schreibt zum Jahreswechsel einen Brief an euch selbst und orientiert euch dabei an folgenden Fragen:
Was soll bleiben, wie es ist?
Wovon will ich loslassen?
Wovon will ich mehr?
Was will ich Neues in mein Leben lassen?

Macht immer wieder etwas, was ihr noch nie gemacht habt. Begebt euch in neue und ungewohnte Situationen. Besucht Orte und Veranstaltungen, wo ihr auf Menschen aus anderen Lebenskontexten und mit anderen Sichtweisen trefft. Tauscht euch mit ihnen aus. Besucht Orte, die ihr noch nicht kennt. Macht Neues allein. Stellt euch den Herausforderungen neuer Situationen. Jede positive Erfahrung fördert euer Zutrauen im Umgang mit Veränderungen und Neuem.

Nehmt Ermutigung durch andere Menschen an. Sie schaffen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Voraussetzung sind Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit der Ermutigungen, beispielsweise „Ich glaub an dich!“, „Ich bin sicher, du wirst es gut machen!“ anstatt „Gib dir Mühe, dann schaffst du das schon!“

Anderen beim Erfolg zuschauen, d. h. orientiert euch an realistischen Vorbildern als Modell dafür, wie es gehen kann. Gemeint sind nicht idealisierte Vorbilder mit unerreichbaren Eigenschaften, sondern Menschen, deren Verhalten ihr für erstrebenswert und machbar auch für euch seht. Menschen, denen ihr es nachtun könnt und möchtet.

Positiver Umgang mit unangenehmen Emotionen, d. h. stellt euch euren Ängsten, Sorgen, eurer Trauer, eurem Schmerz und versucht nicht, sie wegzumachen. Gefühle wollen durchlebt werden und kein Gefühl bleibt ewig. Gerade die unguten Gefühle haben viel Energie und zeugen von Lebenskraft und -willen.

Gebt positive Emotionen eine Chance, wahrgenommen zu werden. Ein einfacher Weg ist es, sich täglich, auch in scheinbar ausweglosen Krisensituationen, Zeit zu nehmen, etwas zu tun, dass tatsächlich Freude macht, guttut, die Seele beruhigt. Das können kleine Aspekte des Lebens sein, wie beispielsweise ein tägliches Ritual, eine Tasse Kaffee zu genießen, morgens erst nach dem Frühstück in das Handy zu schauen, regelmäßig einen Spaziergang in der Natur zu machen, … Allein das Erleben von kurzen Zeiten des Wohlgefühls reguliert negative biochemische Prozesse im Körper, ermöglicht Zuversicht und Hoffnung und gibt das Gefühl von „Ich kann etwas tun“.

Mit Stärken und Ressourcen im Gepäck geht’s leichter. Stärken und Ressourcen sind Kraftquellen. Um gut für herausfordernde Situationen in Zukunft gewappnet zu sein, lohnt sich der Blick auf die bereits erworbenen und längst vorhandenen Stärken und Ressourcen für innere Widerstandskraft. Deshalb ist es wichtig, sich in den guten Zeiten bewusst zu werden, welche Stärken und Ressourcen gerade aktiviert sind, um sie in schlechten Zeiten reaktivieren zu können. Reflektiert am Ende des Tages folgende Fragen:
Wofür kann ich mich heute anerkennen?
Welche meiner Stärken konnte ich heute einsetzen?
Welche meiner Stärken ist mir heute erstmalig bewusst geworden?

Vorab-Imagination des erreichten Erfolges schafft Zutrauen in und Hoffnung. Stellt euch vor, wie ihr einen guten Ausgang herausfordernder Situationen gestaltet und was ihr Schritt für Schritt tut, um dorthin zu gelangen.

Wenn euch mal wieder Gedanken wie „Das schaffe ich nicht.“ oder „Das macht doch eh alles keinen Sinn.“ oder „Was soll ich da schon ausrichten?“ einholen, haltet kurz inne und weist euren inneren Skeptiker in seine Schranken. Stattdessen könnt ihr euch denken „Und was ist, wenn ich es schaffe?“ oder „Und wenn es doch einen Sinn machen würde?“ oder „Und was ist, wenn mein Tun einen Unterschied macht?“

Ich hoffe, ich habe euch ein wenig inspirieren und ermutigen können und füge noch ein Gedicht von Rainer Maria Rilke bei:

Man muss nie verzweifeln,
wenn etwas verloren geht,
ein Mensch oder eine Freude oder ein Glück;
es kommt alles noch herrlicher wieder.
Was abfallen muss, fällt ab;
Was zu uns gehört, bleibt bei uns,
denn es geht alles nach Gesetzen vor sich,
die größer als unsere Einsicht sind
und mit denen wir nur scheinbar
im Widerspruch stehen.
Man muss in sich selber leben
und an das ganze Leben denken,
an all seine Millionen Möglichkeiten,
Weiten und Zukünfte,
denen gegenüber es nichts Vergangenes
und Verlorenes gibt.

Ich wünsche euch allen eine besinnliche Adventszeit und schon bald ein schönes Weihnachtsfest und ein erfülltes, mutiges, energievolles und zuversichtliches Jahr 2024.

Ich wünsche uns allen Aussicht auf wieder Frieden, damit das unsägliche Leid so vieler Menschen aufhören kann und unser aller Energie wieder dahin fließen kann, wo sie für auch zukünftig lebenswertes Leben in Würde gebraucht wird.

Ich wünsche mir, dass wir uns alle als Teil der Natur verstehen und sorgsam mit ihr umgehen und ich wünsche mir, dass wir uns gemeinschaftlich, fürsorglich, einander zugewandt und wohlwollend miteinander verhalten und umeinander bemühen.

Von Herzen weihnachtliche Grüße