Warum ist gutes Bewahren manchmal das bessere Loslassen?

Es lässt sich nicht mehr leugnen. Der Herbst ist da. Die letzten spätsommerlichen Tage waren ein Genuss und nun wird es kälter, grauer, feuchter. Wir müssen Abschied nehmen von der Wärme des Sommers. Für mich ist der Wechsel der Jahreszeiten auch ein Symbol, ein Bild für das Wechselspiel und die Dynamik des Lebens. Zu jedem Leben gehören Übergänge, Abschiede, Wechsel und Veränderungen dazu. Das Leben ist wechselhaft wie die Jahreszeiten.

Auch wenn die stetige Lebensdynamik nicht immer einfach, manchmal schmerzlich, wie momentan durch das aktuelle Weltgeschehen bedingt, sogar erschütternd und entsetzlich ist, gilt immer, dass nichts ewig währt. Es wird weitergehen. Das Weitere gut, vielleicht sogar besser, gestalten zu wollen, oder zumindest einen kleinen Beitrag dazu leisten zu wollen, dass wir auf eine bessere Zukunft hoffen können, darin kann Zuversicht liegen. Eine handlungsorientierte Zuversicht, die ein Gegenpol zum Gefühl der Ohnmacht sein kann.

Ich habe mich insbesondere in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren selbst vielfältig im Loslassen, Abschied nehmen und der Gestaltung von Übergängen und veränderten Lebenssituationen üben müssen. Loslassen von geliebten Menschen, von Illusionen, von einer Lebensphase, … all das gehörte dazu. Dass ist mir nicht immer leicht gefallen. Es ist mir auch nicht immer sofort gut gelungen.

Die Frage nach dem Weshalb

Seither beschäftigt mich die Frage nach dem WESHALB? Weshalb ist es so schwer, loszulassen, Abschied zu nehmen und sich auf Veränderung einzulassen? Weshalb ist es so schwer, zu akzeptieren, dass das Leben nach einem Verlust und nach Veränderung und einem Übergang in etwas Neues anders sein wird als vorher. Und immer wieder auch die Frage: Wie gelingt neue Lebensfreude in verlustreichen und veränderungsintensiven Zeiten? Fragen, deren Beantwortung möglicherweise gerade in momentanen Zeiten des Wandels in der Welt auch eine über das Persönliche hinaus reichende Bedeutung haben können.

Inzwischen habe ich meine eigenen Antworten gefunden. Antworten, die vielleicht auch für euch in Veränderungs- und Verlustsituationen nützlich und hilfreich sein können. Getreu meinem Arbeits- und Lebensmotto ‚Wachsen im Wandel‘.

Eine wesentliche Antwort ist für mich, dass ich vollkommenes Loslassen und endgültige Abschiede nicht für den richtigen Weg halte. Wofür sollte es gut sein, wichtige Aspekte des Lebens beiseitezulegen und loszulassen? Egal ob Menschen oder Ereignisse, egal ob sie gut für uns waren oder auch nicht, sie gehören zu unserer Biografie. Sie sind Teil unseres Menschseins und machen uns aus. Sie lassen sich nicht einfach bei Seite legen. Obendrein bergen alle Menschen und Ereignisse des bisherigen Lebens einen immensen Erfahrungsschatz. Klug ist, ihn auch weiterhin nutzen zu wollen. Das setzt Bewusstheit voraus. Das Gegenteil von dem Versuch, etwas einfach hinter sich lassen zu wollen.

In der Gesellschaft sieht es allerdings noch anders aus. Oft ist zu hören „Irgendwann musst du auch mal drüber hinwegkommen!“, „Das Leben geht weiter. Du musst nach vorne gucken!“, oder wie der Rheinländer zu sagen pflegt, „Wat fott is, is fott!“. Ich bin überzeugte Rheinländerin, aber bei mir „is nix einfach fott, wat auch mal jut war!“

Integrieren anstatt Eliminieren

Meine Erfahrung ist, es geht darum, nicht über etwas oder jemanden hinwegzukommen. Hilfreicher erscheint mir, zu lernen, mit dem verloren Gegangenen in veränderter Weise weiterleben zu lernen. Der Schmerz und die Trauer um verloren gegangene Menschen, egal ob durch Tod, Trennung, Freundschaftsbrüche etc., oder die gefühlte Ohnmacht, Unsicherheit und der Kontrollverlust in sich verändernden Lebenssituationen bedeuten, dass es um wesentliche Aspekte unseres Lebens geht. Wer trauert und schmerzvoll berührt von dem Verlust eines Menschen ist, hat auch geliebt. Wer sich gegen Veränderungen und Umbrüche in seinem Leben wehrt, wertschätzt damit auch das, was war. Das sollte nicht einfach ausradiert werden. Auch nicht mit Abschiedsritualen, wie sie in der klassischen Trauer-und Verlustarbeit methodisch manchmal eingesetzt werden.

All das, was einmal war, hinterlässt Spuren in unserem Leben. Spuren, die Bedeutung behalten dürfen. Sie zu erhalten und zu pflegen bedeutet, ein stückweit Wertvolles zu bewahren. Es bedeutet, daraus lernen zu wollen und an seinen Erfahrungen zu wachsen. Eine wichtige Voraussetzung für ein gutes weiteres Leben. Es macht Sinn, Vergangenes nicht hinter sich zu lassen, sondern es auf eine andere Art als bisher, in das gegenwärtige Leben zu integrieren.

Das schafft Raum für einen friedvollen Abschied, wieder innere Ruhe und Energie, um das Leben neu und anders als bisher gestalten zu können. Neue Lebensfreude kann entstehen. Neben Unsicherheit, Ohnmacht, Schmerz und Trauer können so auch Zuversicht und Freude wiederkehren. Damit fällt es leichter, positiv wieder nach vorne zu blicken. Damit verliert die Ohnmacht ihre Macht über unser Leben und wir gestalten wieder selbstwirksam das Neue. Annehmen, akzeptieren, experimentieren, lernen, Altes gleichermaßen wie Neues integrieren und sich entfalten und wachsen, das sind für mich die wesentlichen Aspekte einer guten Bewältigung kritischer Lebensphasen.

Ein paar vielleicht hilfreiche Ideen für einen guten Umgang mit belastenden Zeiten im Leben:

Macht euch keine Sorgen. Sorgen sind auf etwas gerichtet, dass noch gar nicht eingetreten ist. Ihr verschwendet eure Energie damit. Mein Mantra in solchen Fällen ist: „Stopp! Das ist nicht jetzt!“. Damit richte ich meinen Fokus wieder bewusst auf die Gegenwart.

Lasst Zeiten der Leere zu, bevor ihr euch wieder auf Weiteres einlasst. Das sind Zeiten, in denen Erkenntnisse reifen können.

Erlaubt euch Langeweile, ein höchst anstrengender, aber auch erkenntnisreicher und kreativer Prozess. Beobachtet die Kinder. Aus „Mir ist langweilig!“ entstehen bei ihnen oft die besten neuen Spielideen.

Es braucht so lange, wie es brauchen wird. Jeder Mensch hat seine eigene Art und sein eigenes Tempo, mit kritischen Lebensereignissen und gravierenden Veränderungen umzugehen. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht.

Verabschiedet euch von „Ich muss jetzt …“ Nichts müsst ihr, schon gar nicht in für euch schweren Zeiten, außer mit viel Güte mit euch selbst umgehen. „Müssen“ ist gefüttert von den Erwartungen anderer. Es ist ein wohltuender Lernprozess, sich davon zu verabschieden. Hier ist Loslassen tatsächlich angebracht.

Sucht euch soziale Unterstützung. Teilt euch mit. Bittet vertraute und nahe Menschen um ein offenes Ohr. Nahe Menschen sind jetzt wichtig und stärkend. Wohlmeinende Menschen helfen, uns wieder zu stabilisieren.

Zieht Grenzen. Beispielsweise so: „Ich verstehe, dass dir das jetzt wichtig ist. Ich möchte es aber momentan anders tun“, „Deine Meinung dazu habe ich verstanden. Meine ist aber eine andere“, „Wenn du sagst …, dich so … verhältst, dann ärgere ich mich, dann werde ich wütend, …“ etc. Das ist besser als Türen knallen, toben etc.

Hadert nicht mit Fehlern, die ihr in der Vergangenheit gemacht habt. Ihr habt es damals nicht besser gewusst. Verzeiht euch das. Dann könnt ihr daraus lernen.

Schreibt. Schreiben hat eine nachweislich heilende Wirkung. Schreiben klärt eure Gedanken und Gefühle. Schreibend könnt ihr verarbeiten, was gerade schwer ist. Schreiben befreit. Schreibt einfach drauf los. Fangt einfach an. Der erste Gedanke ist der beste Einstieg.

Stellt euch Fragen:
Was hätte ich im Leben gerne früher gewusst?
Was würde mein 10, 20, … Jahre älteres Ich dazu sagen, wie ich jetzt denke, mich verhalte und fühle?
Was ist mir jetzt das Wichtigste?

Macht was Schönes. Für alles, was uns Stress bereitet, brauchen wir mehrere schöne Erlebnisse als Ausgleich, um das aus der Balance geratene Hormonsystem wieder zu regulieren. Was tut euch gut? Wenn ihr beispielsweise denkt „Ach, das würde ich auch gerne mal (wieder) machen“, macht es.

In Anlehnung an eine Rubrik in der Wochenzeitung DIE ZEIT gefällt mir auch das regelmäßige Nachdenken über „Was macht mein Leben reicher?“.

Das Kostbarste, was wir haben, ist unsere Lebenszeit. Sie ist eine zeitlich begrenzte und unwiederbringliche äußerst wertvolle Leihgabe. Wir müssen sie zurückgeben. Keiner weiß wann seine Leihfrist endet. Seid euch darüber bewusst und nutzt die Zeit gut. So, dass ihr am Ende eurer Lebenszeit, wann auch immer das sein wird, sagen könnt „Ja, ich habe mein Leben so gut wie mir möglich gelebt. Mit allen Höhen und Tiefen und Wechselbädern, die dazu gehören.

In diesem Sinn, hört auf zu funktionieren und macht was Gutes aus Eurem Leben und gebt dabei etwas in die Welt, anstatt nur nehmen zu wollen. Gemeinschaft ist wichtiger als unser Ego!

Und noch etwas: „Es schadet nie, weiter nach Sonnenschein zu suchen …“ (Winnie Pooh)