Resilienz – Die Stärke der Dünnhäutigen
Resilienz ist etwas Anderes als der vielfach zitierte stabile Fels in der Brandung, der sich gegen Widerstände stemmt und unveränderlich starr und fest ist. Resilienz befähigt zu Veränderung, Entwicklung und Wachstum. Resilienz ist ein dynamischer Reifungsprozess. Dafür braucht es Verletzlichkeit, Empfindsamkeit und Dünnhäutigkeit. Nicht die „coolen“, „taffen“ und „kernigen“ Typen sind widerstandsfähig. Nicht die, die felsenfest stehen bleiben, wo und wie sie sind, sondern die, die schwach und verletzlich sein können, sind widerstandsfähig. Die, die sich dynamisch und flexibel an die Erfordernisse anpassen können. Erst Verletzlichkeit macht stark!
Ich wage eine These: Stressempfindliche und dünnhäutige Menschen sind resilienter als diejenigen, denen scheinbar nichts etwas anhaben kann.
Wie komme ich zu dieser Ansicht?
Resilienz ist die Fähigkeit. mit Krisen, Schicksalsschlägen, Belastungen, Umbrüchen und Unsicherheiten unter Rückgriff auf eigene Ressourcen derart umgehen zu können, dass wir diese Situationen ohne Schaden bewältigen und uns im Idealfall sogar persönlich daran entwickeln, verändern und wachsen können. Resilienz ist ein lebenslänglicher Entwicklungs- und Reifungsprozess, während dessen wir uns stetig verbessern im Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens.
Menschen, denen dieser Prozess gelingt, trauen sich durch das „Tal der Tränen“, wenn ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Sie verarbeiten die damit verbundenen Themen tatsächlich tief in ihrem Innersten mit allen dazu gehörenden Emotionen wie Schmerz, Trauer, Verletzung, Enttäuschung, Angst, Einsamkeit, … Sie haben keine Teflon-Schicht an sich, an der alles abprallt, sondern sind empfindsam und verletzlich. Sie sind bereit, zu leiden und können genau deshalb die Wunden ihrer Seele heilen.
Das klingt vielleicht seltsam. Kein Mensch will leiden. Was ist gemeint?
Die verletzte Seele
Es ist egal, ob wir einen geliebten Menschen durch seinen Tod verlieren, ob wir damit fertig werden müssen, dass eine große Liebe unerfüllt ist, ob wir eine Trennung verkraften müssen, ob wir eine schwere Erkrankung erleiden, ob wir unseren Job verlieren oder selbst kündigen, ob eine Freundschaft zerbricht, oder ob wir aus anderen Gründen plötzlich vor scheinbar unlösbare Herausforderungen gestellt sind.
All das kann uns zu Fall bringen und unsere Seele schwer verletzen.
Erst wenn wir die damit verbundenen Gefühle von Verlust, Sehnsucht und Einsamkeit ertragen, aushalten und uns verletzlich zeigen können, haben wir eine Chance, gut aus der tiefen Talsohle herauszukommen und Neues entstehen zu lassen. Dazu braucht es Feinfühligkeit, Empfindsamkeit, Sensibilität, Emotionalität, … eben eine gewisse Dünnhäutigkeit.
Abschied und Verlust
Jede Lebenssituation, die uns aus der Bahn wirft, bedeutet Abschied und Verlust. Der Verlust der Normalität; die zerplatzte Illusion über das, was wir glaubten, was sein, bleiben und werden kann; der Verlust dessen, was wir glaubten, über einen anderen uns wertvollen Menschen zu wissen und wie wir glaubten ihm vertrauen und nah sein zu können; der Verlust von Sinnhaftigkeit, der Verlust von Sicherheit, der Verlust von Zugehörigkeit, … Das ist etwas Anderes und Schwerwiegenderes, als enttäuschte Erwartungen verarbeiten zu müssen. Das tut richtig weh! Das kann uns das Herz brechen!
Sehnsüchte spielen in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Die Sehnsucht nach wieder Sinn und Halt im Leben. Die Sehnsucht nach Nähe, Verlässlichkeit und Vertrauen. Die Sehnsucht nach Heilung der Seele. Die Sehnsucht, zurückzubekommen, was verloren gegangen ist. Die Sehnsucht nach der verloren gegangenen Liebe.
Und genau deshalb, weil wir in diesen Situationen so gerne wiederhätten, was verloren gegangen ist, klammern wir meist an dem Verlorenen.
Wir hadern und sind gefangen in unserer Wut und Verzweiflung. Wir bleiben an den Menschen, Dingen und Verhältnissen „kleben“, die uns verletzt haben. Wir sind wie ein angeschossenes Reh im Wald, verwundet, hilflos und am Boden liegend.
Das bedingt auch, dass wir uns verlassen, einsam und verloren fühlen. Denken Sie an ihren letzten richtig großen Liebeskummer. Denken Sie an das Gefühl, aussortiert worden zu sein und nicht mehr dazuzugehören, nachdem Sie die Kündigung erhalten haben. Denken Sie an den Schmerz und das Gefühl einsam zu sein, nach dem Tod, der Trennung, einer nicht erwiderten Liebe, oder einfach nur dem Wegzug eines nahen Menschen. Denken Sie an das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, als Ihre Kinder endlich erwachsen sind und ihre eigenen Wege gehen … Es gibt viele Situationen, die uns einsam und verloren fühlen lassen.
Ich selbst habe viele dieser Gefühle erlebt und weiß, wie sehr das Herz daran zerbrechen kann.
Von „verbotenen“ Gefühlen
Es kann aber auch wieder heilen. Dann, wenn wir aufhören, uns „mit Taten, Worten und Werken“ im Verlorenen aufzuhalten. Dann, wenn wir uns stattdessen ganz auf unser Innerstes und uns selbst besinnen. Dann, wenn wir unseren Schmerz, unser Leid und damit den Abschied zulassen.
Viele Menschen können das nicht. Scheinbar souverän packen sie ihre Nackenschläge des Lebens beiseite und gehen zur Tagesordnung über. Nur keine Schwäche zeigen, ist ihr Motto. Wenn ein Klient mit den Worten „Das kenne ich. So eine Situation hatte ich schon einmal. Da bin ich aber drüber weg.“ zu mir kommt, werde ich hellhörig. Meist ist er nur drüber weggegangen und hat die Aufgaben, die das Leben ihm gestellt hat, nicht bewältigt. Und genau deshalb hat ihn ein ähnliches Schicksal wieder ereilt und er sucht meine professionelle Begleitung.
Oft stellt sich heraus, dass diese Menschen im Elternhaus erlebt haben, dass nicht über Gefühle gesprochen wurde. Sie durften keine Gefühle haben. Deshalb geben sie sich in allem auch heute redlich Mühe, alles irgendwie hinzubekommen. Ohne Gefühl und nur mit gutem Willen und Verstand.
Dabei sind Gefühle der verlässlichste Indikator für unsere Bedürfnisse und Werte. Immer dann, wenn wir unangenehme Gefühle erleben, sagt uns unser Körper in kompetenter Weise, dass etwas, was uns wichtig ist, gerade verletzt wird. Genau dafür müssen wir wieder sorgen. Dafür brauchen wir Klarheit darüber, was es ist. Die gewinnen wir nur, wenn wir spüren können, wie es uns gerade ganz konkret geht. Es ist ein Unterschied, ob wir traurig, zornig, unsicher, einsam, … sind, oder andere unangenehmen Gefühle haben. Dahinter können sehr unterschiedliche Bedürfnisse stehen. Beispielsweise das Bedürfnis nach Nähe, nach Sicherheit, nach Geselligkeit, nach Ruhe, nach Distanz, nach Unabhängigkeit, … Wer seinen Schmerz nicht spüren kann oder will, kann neue Wege nur schwer finden. Dessen Seele kann nicht heilen. Und er kann nicht wachsen und sich weiterentwickeln. Er stagniert.
Auszeit mit sich selbst
Ich empfehle in schmerzhaften Lebenslagen – aber nicht nur dann – für ein paar Tage einen Ort aufzusuchen, der unaufgeregt, wohltuend und beruhigend ist. Und zwar alleine. Mein Favorit sind ein paar Tage mit einsamen langen Strandspaziergängen an der Nordsee.
Ganz mit sich alleine zu sein in schwierigen Zeiten, ermöglicht, sich wieder mit seinem Innersten zu verbinden und frei zu werden von Belastungen und Zwängen. Das ist gerade dann, wenn das Leben mal wieder wie eine saure Zitrone daherkommt, nicht unbedingt einfach. Viel lieber würden wir uns jetzt ablenken. Das ist aber nicht der Schlüssel zu innerer Stärke und persönlicher Entwicklung. Dafür müssen wir in eine innere Klausur mit uns selbst gehen. Nur dann finden wir, was wir wirklich wollen und brauchen. Nur dann finden wir unseren Seelenfrieden wieder.
Ich empfehle auch ein alltägliches Ritual mit sich alleine, beispielsweise einen täglichen Spaziergang, eine Teestunde, eine Mußestunde, ein Morgen- oder Abendritual, … ein Ritual, dass der verletzten Seele guttut und Zeit zum Nachdenken und Spüren gibt. Denn der Verstand braucht die Gefühle als Verbündeten und Navigator in unsicheren Zeiten.
Viele Menschen gönnen sich diese Zeiten für das eigene Selbst und die Heilung ihrer Wunden nicht. Im Laufe des Lebens vernarbt ihre Seele. Sie legen sich einen vermeintlichen Schutzmantel aus „Coolness“ und einer Haltung nach dem Motto „Da geht noch was! Ich schaff noch mehr!“ zu. Hinter einem nach außen sehr belastbar wirkenden und präsenten Menschen verbirgt sich oft eine tief verletzte innere Seele mit einem überhaupt nicht starken Selbst. Eine Seele, die nie leiden durfte. Eine Seele, die nicht verletzlich sein durfte. Die größten Egozentriker sind oft verwundete Seelen.
Um wieder aufstehen zu können, müssen wir leiden. Verluste müssen verabschiedet und betrauert werden. Gefühle wollen gelebt werden. Erst dann können wir akzeptieren, annehmen und emotional loslassen, was uns zu Fall gebracht hat. Erst dann können wir unsere Wünsche, Sehnsüchte und Träume an das Vergangene verabschieden und den Verursachern vergeben. Erst dann werden wir wieder frei von Demütigung, Verletzung und Verlust.
Dann können wir neue und andere Wege finden und gehen. Dann haben wir eine Chance, dass die Wunden heilen.Dann können wir persönlich daran wachsen, uns verändern und entwickeln.
Die Aktualität der Philosophie
Schon Sokrates vertrat die Meinung, dass glücklich leben kann, wer weiß, was gut für ihn ist. Damit die eigene Seele keinen Schaden nimmt, muss der Mensch Sorge um seine Seele tragen. So seine Haltung. Eine Haltung, die, wie ich meine, in einer Zeit großer Umbrüche und Unwägbarkeiten aktueller denn je ist. Eine Haltung, die eine wesentliche Resilienz-Kompetenz beschreibt. Ein starkes Selbst ist die Wurzel der Resilienz. Ein Selbst, dass seine Stärke aus Empfindsamkeit und Verletzlichkeit zieht.
Ich wage noch eine zweite These: Es wäre aus meiner Sicht ein ideales Modell einer zukunftsfähigen Führungskultur, wenn dünnhäutige, weniger stresstolerante und empfindsame Menschen Führungsverantwortung hätten. Anders als zurzeit, wo eher „die Harten in den Garten kommen“. Mit den dünnhäutigen Feingeistern lässt sich der längst überfällige gesellschaftliche und wirtschaftliche Kulturwandel hin zu Menschlichkeit gestalten. Davon würden wir alle profitieren.
Die, deren Herzen brechen können, sind die wirklich Mutigen und Starken. Sie sind empfindsam und verletzlich und können aus dem Tal der Tränen wieder herausfinden. Sie können verändern und Neues gestalten. Darum geht es heute und in Zukunft. Das ist Resilienz. Eine Kernkompetenz in unsicheren und fragilen Zeiten.