Selbst-Für-Sorge – Stärke im Schwachen

Der Gewinn im Verlust

Manchmal ist es schwer, wieder aufstehen zu können, wenn das Leben uns ein Bein gestellt hat. Besonders wenn wir Verletzungen, Verluste und Abschiede zu verkraften haben. Je nachdem, wie schmerzhaft die Vorgeschichte ist, wie tief der Fall ist und wie hart der Aufprall ist, können die Wunden und Verletzungen schwerwiegend sein. Dann wünschen wir uns jemanden, der uns verarztet und uns die Schmerzen nimmt. Der kommt aber nicht. Wenn unsere Seele verletzt ist, sind wir zunächst selbst gefordert. Die Zauber-Formel für unsere Wundversorgung heißt Selbst-Für-Sorge!

Die Ignoranz der vermeintlich Starken

Oft haben wir die Verluste und Abschiede zu lange nicht ernst genommen. „Wird schon wieder!“, „Die Zeit heilt alle Wunden!“, „Das Leben muss weitergehen!“, „Das gehört zum Leben dazu!“, „Es gibt Schlimmeres!“, …

Immer schön stark sein!

Immer weiter funktionieren!

Bloß nicht schwächeln!

Das ist die Ignoranz der vermeintlich Starken. Eine Ignoranz, die irgendwann wie ein Bumerang zurückkommt und uns hart treffen und umwerfen kann.

Schwäche ist menschlich

Spätestens wenn wir am Boden liegen, gilt es zu akzeptieren, dass wir schwer angeschlagen sind. Es gilt zu akzeptieren, dass wir hilflos, depressiv, voller Wut, Trauer und Tränen sind. Zeitweise auch ohne jede Perspektive und voller unbeantworteter Fragen und ohne Trost für unsere geschundene Seele. Das fällt uns vielleicht schwer und passt nicht in das Idealbild von uns selbst. Und doch, gehört auch diese Seite zu uns. Wir dürfen schwach, gescheitert, verzweifelt, verwundet, depressiv, … sein! Es macht uns menschlich. Und ja, es kann höllisch weh tun! Aber es ist gut, dass wir uns so fühlen können. Weil genau das die Seelenzustände sind, die uns zwingen, eine Kurskorrektur in unserem Leben vorzunehmen.

Eine Kurskorrektur, die meist längst überfällig ist.

Eine Kurskorrektur weg davon, was Andere erwarten und wie wir ihnen gefallen können.

Eine Kurskorrektur weg von den Menschen und Verhältnissen, die uns nicht guttun.

Eine Kurskorrektur hin zu unseren Wünschen, Bedürfnissen und zu dem, was uns ausmacht.

Selbst-Für-Sorge für den Weg wieder raus aus dem Tal der Tränen

Vor der Verantwortung für andere Menschen und der Erfüllung ihrer Erwartungen und Bedürfnisse steht die Für-Sorge für uns selbst. Das ist eine wesentliche Erkenntnis auf dem Weg wieder heraus aus dem tiefen Tal der Tränen. Viel zu häufig machen wir unser eigenes Wohlergehen abhängig vom Wohlwollen anderer Menschen. Selbst dann, wenn sie uns Leid zugefügt haben. Das schlechte Gewissen treibt uns durch die Arena des Wohlgefallens.

Das funktioniert eine Weile. Es ist aber ungeheuer anstrengend, weil wir uns selbst dabei verleugnen. Das halten wir nicht auf Dauer aus, ohne Schaden zu nehmen. Und ganz plötzlich meldet sich unser Körper und zeigt uns die rote Karte. Dann fühlen wir uns kraftlos, leer, traurig, unruhig, nervös, energielos, …

Wir können lernen, mit Leid und Seelenschmerz umzugehen. Indem wir akzeptieren, dass zu jeder „Geschichte“ zwei Seiten gehören. Und indem wir akzeptieren, dass wir die „fremde“ Seite nicht beeinflussen können. Das ist manchmal äußerst schwierig. Manchmal gelingt es vielleicht auch gar nicht, oder erst nach langer schmerzhafter Zeit. Dennoch, wir können einzig und allein uns selbst steuern, verändern und entwickeln. Das zu lernen, heißt, zu lernen, gut für sich selbst zu sorgen. Eben Selbst-Für-Sorge lernen.

Dann finden wir Ruhe und Zufriedenheit in und aus uns selbst.

Dann werden wir frei und unabhängig.

Dann können wir von Geschehnissen und Menschen, die uns nicht guttun loslassen.

Dann haben die Verhältnisse und Andere keine Macht mehr über uns.

Dann können wir klar für uns einstehen und uns vor Verletzung schützen.

Den Schutz aus der Kindheit wiederbeleben

Auf dem Weg dahin kann eine vertraute Person hilfreicher Begleiter sein. Eine Person, die Lebensmut, Lebenslust und Lebenskraft in sich vereint. Die Person muss nicht physisch anwesend sein. Vielleicht erinnern wir uns an eine liebevolle und wichtige Person aus unserer Kindheit, die uns immer mit gutem Rat zur Seite stand. Wenn sie bereits verstorben ist, reicht die innere Zwiesprache mit ihr aus der Erinnerung an sie. Und auf einmal fühlen wir uns gut beschützt. Wie damals als Kind. Uns kann nichts mehr passieren. Wir fühlen uns aufgefangen und angenommen in unserer momentanen Schwäche. Obendrein hält diese Person bestimmt guten Rat aus ihrer geballten Lebenserfahrung für uns bereit. Wie früher auch. Und auf einmal können wir uns aufrichten. Stolzer, aufrechter und mutiger, aber auch anders als zuvor. Selbstbewusster im eigentlichen Wortsinn. Und mit mehr Rücksichtnahme und Respekt uns selbst gegenüber.

Solche imaginativen Reflexionsgespräche können wichtige Impulse für einen Perspektivwechsel geben. Am besten führen wir diese Gespräche fernab von unserem alltäglichen Umfeld an einen Wohlfühlort. Und zwar ganz alleine. Wie überhaupt Alleinsein das Selbst stärkt. Ohne jeden Fremdimpuls können sich die eigenen Gedanken ordnen, klären und entspannen. Manchmal ist es zunächst schwer, weil gerade, wenn wir allein sind, unser Schmerz uns wie eine Tsunamiwelle wieder überrollt. Wie eine „echte“ Welle auch, zieht er sich aber irgendwann zurück. Und macht Platz für das bis dahin unsichtbare weil untergetauchte (Gedanken-) Strandgut. Und dann können wir die freigelegten Muscheln, sprich neue Ideen, aufnehmen

Der Gewinn im Verlust

Jeder Verlust bietet die Chance, Neues zu gewinnen. Es ist nützlich, sich zu fragen, was der Gewinn des Verlustes sein wird. Um die Blickrichtung zu verändern. Weg vom Verlorenen, hin zum Neuen. Mit Sicherheit gewinnen wir Lebenserfahrung. Vielleicht auch Mut, Freiheit, Unabhängigkeit, Reife, Lebendigkeit, neue Freunde, … oder ganz einfach Authentizität!

Und auf einmal entwickeln wir innere Stärke. Auf einmal kann uns die Krise wieder ein Stück weit klarer und intensiver zum Vorschein kommen lassen. Das ist dann Resilienz pur!

©Julitta Rössler