Eine neue Ethik von Wachstum
Scrum, Design Thinking, Agilität, Agile/Digital Leadership etc. sind zurzeit inflationär benutzte Begriffe und scheinbar neue Ansätze im Umgang mit den drängenden Fragen und Themen der aktuellen und zukünftigen Arbeits- und Lebenswelt. Scheinbar, weil es nur um neue Werkzeuge, Methoden und Tools geht, ohne tatsächlich Neues zu kreieren. Quantitatives Wachstum, Profitmaximierung und Effektivitätssteigerung sind unverändert die Ziele. Die Grundannahmen unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems werden nicht oder nur wenig hinterfragt. Das ist fatal, weil wir mit gewohntem Denken und Handeln in Zukunft scheitern werden! Wir brauchen ein neues Mindset.
Schon in den nächsten Jahren stehen wir vor gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Veränderungsnotwendigkeiten in einem Ausmaß, wie wir es uns heute kaum vorstellen können. Computer und Roboter werden einen wesentlichen Teil der bisherigen menschlichen Arbeiten übernehmen. Auf dem diesjährigen IWF in Davos haben führende Wirtschaftsvertreter den Wegfall von mehreren hundert Millionen heutiger Arbeitsplätze bis zum Jahr 2030 prognostiziert. Computer werden immer „schlauer“, immer „menschlicher“ und zwingen uns, unser Verständnis von und unsere Beziehung zu Arbeit und damit unser gesamtes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem neu zu definieren.
Von Quantität zu Qualität
Wir befinden uns in gewisser Weise in einem Endzeitalter. Wollen wir nicht das Ende unserer Kultur, vielleicht sogar unseres menschlichen Daseins riskieren, so ist es notwendig, ein neues qualitatives Wachstumsverständnis verbunden mit einer neuen und menschlicheren Ethik zu entwickeln. Die Frage nach dem Sinn unseres Daseins, nach einem Lebenswert in der digitalisierten Welt, nach Wegen, unseren Lebensraum zu schützen, nach Wachstum fernab von einer ausschließlich materiell orientierten und unlimitierten Wachstumserwartung und viele weitere Fragen brauchen dringend Antworten. Das erfordert neue Haltungen, Vorstellungen und eine andere Sicht auf die Welt als bisher, eben ein neues Mindset.
Um es ein wenig verständlicher zu machen, stellen Sie sich vor, Sie würden auswandern. Beispielsweise nach Australien. Stellen Sie sich weiter vor, Sie müssten dort bei den Ureinwohnern, den Aborigines, leben. Das Lebenssystem der Aborigines ist ein völlig anderes als das Ihnen bis dahin aus der Heimat vertraute System. Wenn Sie an Ihren bisherigen Grundannahmen, Denkweisen, Ansprüchen und Haltungen festhalten, werden Sie scheitern. Um zu überleben, müssen Sie umdenken und eine neue Sicht auf das Leben, ein neues Mindset entwickeln. Dann haben Sie eine Chance. Dann werden Sie sich an dieser Herausforderung weiterentwickeln können.
Entfaltung und Wachstum als Schlüsselkompetenz
Für den Menschen wird es im Arbeits-, Produktions- und Leistungsprozess neue Aufgaben geben. So, wie bei jedem grundlegenden technologischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel bisher auch. Welche Aufgaben das sein werden, das können wir uns heute auch noch nicht wirklich vorstellen. Absehbar ist aber ein Wandel weg vom Quantitativen hin zum Qualitativen. Kreative und qualitative Aufgaben werden für den Menschen neue Möglichkeiten der Entwicklung eröffnen.
Dafür müssen wir bereit sein zu Reflexion und Aufbau von Selbstkompetenz. Darin liegt unsere Überlebenschance. Erstmalig können menschliche Entfaltung und persönliches Wachstum zentraler Erfolgsfaktor werden. Unsere Einzigartigkeit als nicht nur denkendes und leistendes, sondern auch emotionales, kreatives, empathisches und beziehungsfähiges Wesen mit einem reif entwickelten Selbst wird zur Schlüsselkompetenz für ein gutes Leben in der Digitalisierung. Denn das unterscheidet uns vom Computer. Darin liegt eine Chance für eine neue menschliche Evolutionsstufe, die geprägt sein kann von menschlicher Reifung, Entfaltung und Wachstum. Das wäre sinnstiftendes Wachstum. Die Orientierung am eigenen inneren Kompass, am tief im Innern verankerten Kern unseres Wesens mit Fragen wie „Wie will ich Leben? Was sind meine zentralen Werte, denen ich folgen will? Wie und wer bin ich, wenn ich werde, der ich bin? Was ist mein innerer Antrieb? Wofür will ich mich einsetzen und Verantwortung übernehmen? Was macht mich aus? “… können in den Mittelpunkt rücken. Nie zuvor in der Evolution haben wir diese Ebene des Seins erreichen können. Wir dürfen diese Chance nicht verpassen!
Innovationskraft durch kreative Unsicherheit
Auch in Unternehmen ist der vielfach noch als leere Worthülse benutzte Begriff des Kulturwandels mit einem neuen Mindset zu füllen, wenn er gelingen soll. Auch hier geht es um die Abkehr vom Außen hin zum Innen. Die Manipulation potenzieller Kunden zum Kauf von Dingen, die ihre Lebenssituation nicht verbessern, „nur“ um den Shareholder Value und materiellen Wohlstand zu steigern, ist an einen Sättigungspunkt gelangt. Dieses System schadet uns.
Stattdessen sollten auch Unternehmen ethische Fragen stellen. „Wofür wollen wir stehen? Wie können wir wirtschaftlichen Wandel so gestalten, dass eine Verbesserung des Lebens für alle daraus erwächst? Wofür wollen wir Verantwortung tragen? Was sind unsere zentralen Werte? Welches Kernanliegen treibt uns? Welche Kernkompetenzen haben wir? Wie können wir vorgehen und unseren Spirit umsetzen? Wie können wir unsere Ideen, Produkte und Dienstleistungen so in den Markt und in die Welt tragen, dass wir auf eine für den Menschen nützliche und gute Weise wirtschaftlich erfolgreich sind?“ … Ein Prozess kreativer Unsicherheit mit allen innovativen Chancen kann und muss daraus entstehen. Den brauchen wir, um Kulturwandel gut für uns zu gestalten, die damit verbundenen Chancen zu nutzen und die Risiken einzudämmen.
Bei der Suche nach Antworten auf neue Fragen helfen Methoden, Tools und Werkzeuge nur sehr wenig. Sie können bestenfalls in einer letzten Stufe der konkreten Umsetzung hilfreich sein. Fehlt der Reflexionsprozess davor, nützen sie auch dann nicht. Statt neuer Methoden, Techniken und Tools brauchen wir Horizonterweiterung, inneres Wachstum und revolutionär neue Denkwelten. Wir müssen radikal umdenken, uns verändern und umlernen! Wir müssen uns einen neuen Platz in einem anderen, noch nicht vorstellbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System erobern. Das geht am besten, indem wir unsere kreativen, emotionalen, sozialen und empathischen Potenziale entfalten und unser Selbst und unsere Persönlichkeit entwickeln. Dann haben wir die Chance auf innere Stabilität in der Veränderungsdynamik der digitalen Welt.
Schon Aristoteles hat in seinen ethischen Schriften geschrieben, dass ein Wesen dann ein gutes Leben führt, wenn es seine natürlichen Anlagen auf gute Weise entwickeln und ausüben kann. Wir hätten jetzt die Chance dazu.
Trainer und Coaches – Geburtshelfer für eine neue Evolutionsstufe
Wir Coaches und Trainer können einen Beitrag leisten. Dafür müssen auch wir unser Mindset verändern. Tools und Techniken sind auch für uns nicht länger der Schlüssel zum Erfolg. Starre Seminarkonzepte und Ablaufpläne gehören in die Mottenkiste. Wir sollten Inspirator sein, der einen neuen und den Horizont erweiternden Dialog anstößt und ihn kompetent moderiert. Immer dicht am einzelnen Menschen und seiner Einzigartigkeit.
Neue Denkwelten entstehen durch freigeistige Diskussionen und Reflexion. Dafür brauchen wir selbst eine vielfältige Themenkompetenz in kreativen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen sowie eine ausgeprägte persönliche Reife. Als Trainer und Coach ist es vorteilhaft, wenn wir neben methodischer Kompetenz beispielsweise auch Kenntnisse in der Philosophie haben, oder die inspirierende Wirkung von Kunst zu nutzen wissen und uns darüber hinaus in der Vielfalt der psychologischen Schulen auskennen. Wir sind Vorbilder und müssen selbst spürbar frei von konventionell geprägten Denk- und Handlungsmustern sein.
Unsere Aufgabe ist es, zu ermutigen, zu stärken und Lust auf Selbstentwicklung zu machen.
Wir brauchen Leidenschaft für menschliche Veränderung, Wachstum und Entwicklung und müssen den Funken überspringen lassen. Wir sind so etwas wie Geburtshelfer für eine neue Evolutionsstufe menschlicher Entwicklung. Das klingt vielleicht überheblich. Ist es aber nicht. Das ist unsere ethische Verantwortung als Trainer und Coach.