Flexible Anpassung anstatt Flucht oder Kampf

Der neuzeitliche Säbelzahntiger als Chamäleon

Jeder, der schon einmal ein Stressmanagement-Seminar besucht hat, kennt vermutlich die Geschichte vom Säbelzahntiger. Sie dient dazu, die seit der menschlichen Urzeit und bis heute im Körper ablaufenden Prozesse bei Stresserleben zu erklären. Diese Prozesse sind aber nicht kompatibel für die Bewältigung der neuzeitlichen „Bedrohungen“. Ein neues Mindset ist auch hier gefragt. Geistige Wendigkeit, Klarheit über Werte und Bedürfnisse, Sensibilität für Gefühle, Kreativität, die Fähigkeit zur Selbststeuerung, also Selbstkompetenz und eine reife Ich-Entwicklung sind wichtig im Umgang mit belastungsintensiven Unsicherheiten und Anforderungen.

Stress lauerte beim Urzeitmenschen hinter dem Busch als Säbelzahntiger. Die beiden einzigen sinnvollen Reaktionsweisen des Menschen auf ihn waren, schnellstens die Flucht zu ergreifen oder den Kampf aufzunehmen. Dafür war in erster Linie Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit nötig. Deshalb startete der menschliche Körper blitzschnell die Produktion von Stresshormonen, um alle Energien in die körperliche Aktivierung zu lenken. Das sicherte das Überleben und damit unsere Evolution.

Die genetische Prägung der Evolution

Die Geschwindigkeit der Evolution nimmt rasend schnell zu. Seit erst etwa zehntausend Jahren haben wir uns vom Urzeitmenschen zunächst zum Bauer und Handwerker, dann zum Fabrikarbeiter und schließlich zum geistig arbeitenden Menschen entwickelt. Davor liegen zwei Millionen Jahre als Jäger und Sammler im ständigen Kampf ums Überleben. Eine lange Zeit, die genetische Spuren hinterlassen hat. Kein Wunder, dass unser Körper immer noch das alte Programm startet wenn wir uns gestresst fühlen. Es ist nur leider nicht kompatibel für die Bewältigung der neuzeitlichen „Bedrohungen“. Weglaufen oder Kämpfen helfen nicht mehr. Wir müssen die Herausforderungen annehmen und zum Guten für uns gestalten, anstatt gegen sie anzukämpfen oder wegzusehen.

Unvorhersehbarkeit lässt sich nicht managen

Statt körperliche Energie brauchen wir dafür mentale Energie, psychische Stabilität und innere Stärke. Selbstkompetenz ist gefragt.

Natürlich ist es sinnvoll, Methoden zur Entspannung in akuten Stresssituationen zu kennen. Natürlich stärken Meditation und achtsamkeitsbasierte Übungen die Selbstwahrnehmung. Natürlich ist Bewegung sinnvoll um die durch urzeitliche Prozesse überschüssige Körperenergie wieder abzubauen. Im Fokus klassischer Stressmanagement-Angebote sind aber noch zu viele Methoden und Techniken, die nicht zeitgemäß sind. Zeitmanagement, Prioritätenplanung, stabile Zeitstrukturen etc. halte ich für fragwürdig im Umgang mit den Anforderungen einer unvorhersehbaren und kaum planbaren Welt.

Wenn Hierarchien sich auflösen, wenn selbstorganisierte Prozesse mit wechselnden Beteiligten alltäglich sind, wenn es keinen festen Arbeitsalltag mehr gibt, wenn Unsicherheit das Sicherste ist, was wir haben, … dann müssen wir flexibel, wendig und spontan sein. Da helfen To-Do-Listen nur wenig. Wenn Aufgaben immer schneller hinfällig und durch neue Aufgaben und Visionen ersetzt werden, haben Prioritätenlisten keinen Nutzen. Wenn Führungs- und Entscheidungsverantwortung auf jeden Einzelnen übergehen, dann wird insbesondere eine empathische Beziehungsfähigkeit zum Erfolgsfaktor im Dienste gemeinsamer Visionen. Wenn sich Arbeitsleben und Privatleben immer mehr miteinander vermischen, ist die Fähigkeit zu Selbststeuerungskompetenz unerlässlich.

Soft-Skills sind die Schutzfaktoren und Kraftquellen der Neuzeit.

Ich-Entwicklung als Stressmanagement-Tool

Der Säbelzahntiger ist heute wie ein Chamäleon. Er wechselt gewissermaßen immer wieder sein Erscheinungsbild. Veränderung, Wandel und Evolution in einem immer schnelleren Tempo sind die Säbelzahntiger der Moderne. Innere Klarheit, wertebasierte Haltungen und Selbstwirksamkeit auf der Grundlage eines positiven und starken Selbst helfen im Umgang damit. Persönliche Entwicklung, die Entfaltung von Potenzialen sowie Wachstum und Reifung sind die Stressmanagement-Tools im Zeitalter der Digitalisierung.

Sehen wir es als große Chance an, in unserem Kulturraum eine Evolutionsstufe erreicht zu haben, auf der wir Fragen nach Sinn, Zufriedenheit und Glück stellen können. Was für ein Luxus gegenüber den existenziellen Fragen und Problemen in den meisten Ländern dieser Erde. Wir sollten verantwortungsvoll mit den bevorstehenden Entwicklungen umgehen, um diese Stufe der Evolution und unsere Freiheit, unsere persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten und unsere Lebensqualität nicht zu riskieren. Sonst haben wir wieder urzeitlichen Stress.

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