IKIGAI – Dem Lebenssinn auf der Spur

„Überlasse dich sanft dem, was du wirklich liebst mit einem seltsamen Sog. Es wird dich nicht vom Weg abbringen.“
(Rumi, Sufi-Mystiker, Gelehrter und einer der bedeutendsten persischsprachigen Dichter des Mittelalters)

IKIGAI (jap. 生き甲斐 Lebenssinn, Lebenswert) ist frei übersetzt das, wozu es sich zu leben lohnt. Das, wozu es sich lohnt, morgens aufzustehen. Das, was dem Leben Sinn und Freude verleiht. Das, was uns antreibt und motiviert. IKIGAI ist die Kraftquelle für ein langes, freudvolles und gesundes Leben. In der Vollendung meint IKIGAI, dann ein erfülltes Leben führen zu können, wenn wir wirklich gerne tun, was wir tun, es gut können, wir damit einen Wert für andere, unsere Gemeinschaften, die Gesellschaft oder gar für die Welt schaffen und gleichzeitig unseren Lebensunterhalt damit verdienen können. Dann, wenn wir in unsererm täglichen Tun einen Sinn erkennen können.

In der japanischen Kultur hat die Suche nach dem individuellen Lebenssinn, dem IKIGAI, eine lange Tradition. Es zu kennen, bedeutet, bis ins hohe Alter vital zu bleiben und die Hürden des Lebens gut und gesund meistern zu können. IKIGAI ist kein materielles oder monetäres Erfolgsziel und unterscheidet sich damit deutlich von den an äußeren Erfolgen orientierten Maximierungs- und Optimierungstendenzen in unserem Kulturkreis. Der Fokus liegt darauf, die innere und wesensgemäße Berufung zu finden. Seinen IKIGAI aufzuspüren, ist ein Prozess in kleinen Schritten, der damit beginnt, zunächst die von uns im alltäglichen Stress so oft vernachlässigten täglichen und nur scheinbar unbedeutenden Beschäftigungen, die wir gerne machen, die uns guttun und deren Sinn wir erkennen, auch tatsächlich zu tun.

Machen wir das, was wir wirklich gerne tun und das, was uns wichtig ist und sinnvoll erscheint, so gewinnen wir daraus, auch unter Anstrengung, neue Energie und Lebenskraft. Es wäre schön, wenn auch unsere Arbeit uns derart guttut, dass am Ende Energie für uns bleibt, weil wir das für uns Richtige tun und erfüllt davon sind. Dabei können wir innere Kraft schöpfen, die notwendig ist, um auch mit Krisen und Herausforderungen im Leben gut und ohne nachhaltige Beeinträchtigungen umgehen zu können. Erledigen wir etwas mit Freude und erkennen wir einen Sinn darin, so geht es uns leicht von der Hand. Wir können uns besser konzentrieren und sind herausgefordert, aber nicht überlastet. Mit Lebensfreude sinkt das Risiko von Erkrankungen und steigt die Lebenserwartung. Denn wer zufrieden ist, erlebt weniger Stress und damit weniger gesundheitliche Beeinträchtigungen.

IKIGAI weist eine starke Verbindung zu anderen Therapieansätzen, Theorien und Themenfeldern auf.

Beispielhaft zählt hierzu der gerade sehr aktuelle New-Work-Ansatz. Er wurde von dem gerade kürzlich verstorbenen österreichisch-amerikanischen Philosph Frithjof Bergmann begründet. Bergmann vertrat die Auffassung, dass es menschlich erstrebenswert und im Zuge der Veränderungen der Arbeit durch die Digitalisierung auch möglich sei, endlich Arbeit zu so zu gestalten, dass wir nur noch arbeiten, was wir wirklich, wirklich wollen.

Das ebenfalls in jüngster Zeit immer populärer werdende Resilienz-Konzept zeigt in vielen Forschungsergebnissen Parallelen zum Modell des IKIGAI. Auch hier geht es um die Möglichkeiten einer positiven, zuversichtlichen und gesunden Lebensführung zur Stärkung der inneren Widerstandskraft. Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen, Belastungen und Widerstände unter Rückgriff auf persönliche Ressourcen und Qualitäten gesund und gut zu meistern und idealerweise als Anlass für persönliche Entwicklung zu nutzen.

Ein Ansatz, ähnlich dem IKIGAI, ist die von Victor Frankl (österreichischer Psychiater) begründete Logotherapie. Kern dieser Therapieform ist, wie auch beim IKIGAI, die Suche nach einem übergeordneten individuellen Lebenssinn. Frankl sah die Suche danach als elementare Kraft an, um mit den Widrigkeiten des Lebens gut und gesund umgehen zu können. Frankl zitiert dazu in seinen Schriften gerne Nietzsche’s Worte:
„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“.

Das Salutogenese-Konzept von Aaron Antonovsky ist ein nach wie vor aktueller Erklärungsansatz dafür, wie Gesundheit entsteht und wie wir auch unter großer Belastung gesund und leistungsfähig sein können. Im Mittelpunkt stehen drei Faktorenkomplexe.
Gesundheit entsteht und festigt sich immer dann, wenn wir uns selbst und den Kontext verstehen können, wenn wir uns selbstwirksam einbringen können und wenn das, was wir tun, einen erkennbaren Sinn für uns hat. Auch hier geht es also um die Sinnfrage.

Bereits in der antiken Philosophie war die Frage nach dem guten und gelingenden Leben eine zentrale Frage. Aristoteles beschäftigte sich beispielsweise in seinen Schriften zur Ethik intensiv damit, Grundbedingungen und Strategien für ein gelingendes und erfülltes Leben aufzuzeigen. Ein gutes Leben bedeutete für ihn, dass der Einzelne tut, was er wirklich tun will, nicht, was er tun soll. Das höchste daraus erwachsende Gut ist für ihn das innere Glück. Der Weg dorthin führt über die Entfaltung der einzigartigen individuell wesensgemäßen Potenziale.

Seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts erfährt die Frage nach dem erfüllten, gelingenden und guten Leben eine neue Aktualität vor allem in der Psychologie und in der aktuellen Philosophie. Insbesondere der noch junge Zweig der Positiven Psychologie widmet sich der Frage, wie ein gutes und erfülltes Leben gelingen kann. Neben der Frage nach dem Glück gewinnt dabei immer mehr die Sinnfrage Bedeutung. Also erneut eine Parallele zu IKIGAI.

IKIGAI ist somit keine Technik oder Methode, um zu schnellem Ruhm und Erfolg zu gelangen. IKIGAI ist eine Lebenshaltung, eine positive Einstellung zum Leben, eine Lebensweisheit. Es ist ein Wertesystem, nach dem es sich zu leben lohnt. Ein Wertesystem, das sich an den ureigenen Bedürfnissen, Leidenschaften, Träumen, Talenten und Wesensmerkmalen jedes einzelnen Menschen ausrichtet. An dem, was jeden Menschen einzigartig macht. An dem, was ihn erfreut, motiviert, gesund hält und wobei er glücklich und zufrieden ist.

Erfolg ist irgendwann wahrscheinliches Nebenprodukt als Folge einer stetigen Verbesserung des eigenen leidenschaftlichen Tuns aus einem inneren und nicht von äußeren Erwartungen geleiteten Wunsch danach. Dieser Wunsch entsteht dann, wenn wir zunächst “nur” aus Freude und Sinn etwas sehr konzentriert, achtsam, mit Ausdauer und ohne Ablenkung tun. So, dass wir darüber die Zeit vergessen. Nicht das Ergebnis und der Erfolg sind entscheidend, sondern das Erleben in der selbstvergessenen Beschäftigung mit etwas, das uns erfüllt. Wie ein Kind, das spielt und darüber Zeit, Raum, sich selbst und alles Äußere vergisst und völlig versunken ist in das gerade faszinierende Spiel. Ein Zustand des Erlebens vollkommen eins mit der Gegenwart, frei von hadernden Gedanken an das Vergangene und frei von Erwartungen an die Zukunft. Lediglich im Hier und Jetzt ganz bei sich selbst und dem, was uns authentisch und im Einklang mit der gegenwärtigen Situation vital und aktiv sein lässt. Selbst dann, wenn die momentane Lebenssituation vielleicht schwierig und belastend ist. Dabei verbessern wir unsere Fähigkeiten und Ergebnisse ganz automatisch. In dieser aus Leidenschaft für etwas resultierenden Verbesserung liegt dann auch die Chance für späteren äußeren Erfolg und Anerkennung.

Menschen, die ihrem IKIGAI folgen, sind nicht enttäuscht, wenn das, was sie tun, nicht unmittelbar belohnt wird. Sie akzeptieren, dass Erfolg und Anerkennung nicht garantiert sind und möglicherweise erst mit einer zeitlichen Verzögerung eintreten. Sie akzeptieren, dass ihr IKIGAI alleine nicht unbedingt den Lebensunterhalt sichert, finden aber über die teilweise Verwirklichung ihres IKIGAI, vielleicht nur in der Freizeit, zu Energie und Wohlbefinden, die auch in ihrem alltäglichen Job vitalisierend wirken. Oder sie finden Wege, einen momentan notwendigen, aber unbefriedigenden oder belastenden Job mit ihren IKIGAI-Qualitäten sinnvoll anzureichern und aufzuwerten.

Insbesondere in kreativen Tätigkeitsbereichen finden sich zahlreiche Beispiele dafür. Kaum ein Künstler, der es zu Ruhm und Anerkennung gebracht hat, hat das geplant. Künstler folgen ihrer Leidenschaft und entwickeln im täglichen Schaffensprozess immer mehr Präzision in ihrem Handwerk, immer mehr Können, immer mehr Ideenvielfalt, … bis hin vielleicht zum großen Erfolg. Sie geben nicht auf, wenn der Erfolg anfänglich ausbleibt, sondern folgen weiter ihrer Berufung. Spitzenköche werden nicht als solche geboren, sondern entwickeln ihre Leidenschaft für Kochen, Genuss und Ästhetik stetig weiter und gelangen erst nach und nach zu Bekanntheit und Anerkennung. Der Weg zum Sternerestaurant führt über Anstrengung, Ausdauer, Leidenschaft und Freude am Tun. Auch in anderen Berufsfeldern sind Erfolgsgeschichten der besonderen Art möglich, wenn jemand seiner Berufung folgt, wie beispielsweise Steve Jobs. Als Mitbegründer und CEO von Apple Inc. ist er eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Computerindustrie gewesen. Das sind die öffentlich bekannten großen Erfolgsgeschichten.

Nicht minder bedeutsam ist es aber, wenn die Pflege eines nahen Angehörigen, die Versorgung der Familie, das Kümmern um die Erziehung, die Veröffentlichung eines Buches, soziales Engagement, der „kleine“ Projekterfolg, die Freude des Handwerkers an seiner Arbeit, … mit Leidenschaft und aus einem inneren Ruf danach zur erfüllenden Berufung werden. Es geht eben nicht um die Maximierung äußerer Belohnung, sondern um das innere Glück und die Freude. Das ist der Motor für ein lebenslanges gutes Leben, auch dann, wenn der Lebensunterhalt möglicherweise nicht im IKIGAI verdient werden kann.

Es geht gerade zu Beginn nicht unbedingt um die großen Aufgaben des Lebens. Sie zeigen sich im Verlauf dieses Prozesses möglicherweise auch. Der IKIGAI eines Menschen zeigt sich aber bereits in jeder freudvollen Situation, auch in den kleinen Momenten, die jeder Tag bereithält. Beispielsweise in einer wohltuenden Morgenroutine, beim Genuss einer Tasse Kaffee, bei einem Spaziergang in der Natur, … Alles, was uns guttut und wobei wir im jetzigen Moment Freude am Leben verspüren, zählt dazu und trägt zu einem erfüllten Leben bei. Spüren zu können, was uns guttut, und es tatsächlich zu tun, ist der erste kleine Schritt, den IKIGAI in sich zu entdecken. Und wer weiß, vielleicht entwickelt sich daraus ein vollendeter IKIGAI. Beispielsweise, wenn die Freude am Genuss der täglichen Tasse Kaffee auf einmal das Interesse am Prozess der Herstellung von Kaffee weckt und die wachsende Leidenschaft dafür der Grundstein für eine Ausbildung zum Röstmeister und Kaffee- Sommelier wird. In kleinen Schritten wird aus der Freude an etwas, etwas, das wir auch gut können, womit wir einen Beitrag für das Wohlbefinden von Menschen leisten und womit wir obendrein den Lebensunterhalt verdienen können. Alles, was wir aus Leidenschaft tun, kann vielleicht im Laufe der Zeit das Fundament auch für die Sicherung unserer Existenz werden.

Menschen, die ihren IKIGAI, also das, was sie für sinnvoll erachten, gerne tun, gut können und womit sie günstigenfalls auch ihren Lebensunterhalt verdienen können, gefunden haben, setzen sich nicht zur Ruhe. Wer weiß, was ihn begeistert, was tatsächlich „sein Ding“ ist, der wird nicht aufhören, sich damit zu beschäftigen, es immer weiter vertiefen und sich darin verbessern. Bis ins hohe Alter. Menschen, die ihren IKIGAI gefunden haben und ihr Leben danach ausrichten, können auf ein langes, gesundes und bis zum Ende selbstbestimmt und unabhängig gelebtes Leben hoffen.

Seinen IKIGAI zu finden, ist ein Prozess der kleinen Schritte und des Loslassens von äußeren Bedingungen und Erwartungen. Ein Prozess der Hinwendung zum eigenen Inneren. Statt Gewinnen und Verlieren steht der Wunsch nach einem sinnvollen und nachhaltigen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft leitend im Zentrum.

Der Prozess der Suche und des Findens des eigenen IKIGAI’s, beispielsweise im Coaching, erfolgt über eine tiefe Selbstreflexion durch die Beantwortung einer umfangreichen Reihe von Fragen zu den folgenden vier Fragenkomplexen.

Was liebst du zu tun?
Was ist dein Beitrag für die Gemeinschaft, die Gesellschaft oder die Welt?
Was kannst du gut?
Womit kannst du deinen Lebensunterhalt verdienen?

Die Schnittmenge aus allen vier Aspekten ist unser „großer“ IKIGAI. Das, was wir gerne tun, was wir gut können, womit wir einen wertvollen Beitrag leisten können und wofür wir Anerkennung und Geld erhalten können.

Auch die Realisierung einzelner Teilaspekte ist aber bereits lohnend. Auch sie tragen zu einem erfüllten und freudvollen Leben bei und erleichtern den guten und gesunden Umgang mit den nicht wohltuenden Aspekten des Lebens.

Die Konkretisierung des individuellen IKIGAI’s auf Basis der gefundenen Antworten beinhaltet ergänzend auch die Klärung der uns individuell leitenden Werte. Werte sind der Maßstab dafür, was uns wirklich wichtig ist und lenken unser Verhalten in eine für uns wünschenswerte Richtung. Werte helfen, Chancen und Möglichkeiten daraufhin zu bewerten, ob sie zu uns passen.

Die Formulierung eines IKIGAI-Lebensmottos bildet den Abschluss der Suche nach dem eigenen IKIGAI. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, denn der IKIGAI verändert sich immer wieder mit unserer eigenen Weiterentwicklung.

Aktuelles Online-Seminar zum Thema bei der Akademie Heiligenfeld:

IKIGAI – Dem Lebenssinn auf der Spur