Zugegeben, im Urlaub schreibt es sich leicht über das gelungene und gute Leben. Vielleicht ist aber gerade diese Zeit der Muße, des zweckfreien Daseins und Nachdenkens, ein guter Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Fragen zum gelingenden Leben.
Was ist gelingendes, gutes und erfülltes Leben?
Bereits in der antiken Philosophie war die Suche nach dem Glück zentral. Der altgriechische Begriff der Eudaimonia steht für Glück oder Glückseligkeit im Sinne einer gelungenen Lebensführung in ausgeglichenem Gemütszustand als ein Ziel aller Menschen. Damit verbunden gilt Autarkie im Verständnis von Selbstgenügsamkeit als Ideal. Gemeint ist, sich so zu verhalten, dass aus einem inneren Frieden mit sich selbst heraus, nicht an äußeren Faktoren orientiert, Glück erlebbar wird. Äußere Bedingungen dabei als gegeben anzunehmen und mit ihnen zielführend umzugehen, ist ein Teil des zum Teil auch beschwerlichen Weges hin zu einem am Ende als gelungen zu bezeichnenden Lebens.
Die wohl einflussreichte ethische Schrift von Aristoteles, die „Nikomachische Ethik“, prägt bis heute Vorstellungen von Wohlbefinden. Aristoteles vertrat die Auffassung, dass die Entfaltung der wesensgemäßen Tugenden und Talente und im Einklang mit ihnen zu leben, die grundlegende Bedingung für das gute Leben ist. Er war auch überzeugt, dass der Einsatz der eigenen wesensgemäßen Qualitäten für andere oder einen höheren Zweck, zum Erleben von Glück führt. Die Aspekte der Entfaltung des jedem Menschen innewohnenden einzigartigen Wesenskerns findet sich auch in anderen Ansätzen wieder. Beispielweise in der japanischen Kultur im IKIGAI-Modell und auch in Ansätzen der Entwicklungs- und der Persönlichkeitspsychologie. C.G. Jung war einer der ersten Vertreter hierzu.
Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Psychologie die positiven Aspekte des Lebens und das, wodurch Menschen glücklich und zufrieden sein können, vermehrt in den Fokus ihrer Betrachtung zu richten. Begründer waren Carl Rogers, Abraham Maslow und den Logotherapiebegründer Viktor Frankl.Sie gelten als Wegbereiter eines Paragigmenwechsels, weg von einer defizitär orientierten und hin zu einer ressourcenorientierten Sichtweise.
Anfang des 21. Jahrhunderts gewann die Positive Psychologie Aufschub. Seligman und Csikszentmihalyi, die Begründer der Positiven Psychologie, stellten die empirische Erforschung der positiven Aspekte des Lebens in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen um psychologischen Erkenntnisgewinn. Dabei ist der Blick auf sowohl die guten wie auch die schwierigen Seiten des Lebens gerichtet. Beide prägen aus Sicht der Positiven Psychologie gleichermaßen die Bedingungen für die Gestaltung eines guten Lebens. Im Rahmen dieser Entwicklungen der Psychologie werden immer wieder auch philosophische Erkenntnisse aufgegriffen und wissenschaftlich verifiziert.
Aus meiner Sicht sind all diese Ansätze eine erste gute theoretische Orientierungshilfe für die Auseinandersetzung mit Fragen des guten Lebens.
Aber wie kann eine praktische Sicht darauf aussehen?
Das Leben als Reise betrachten
Angenommen, wir betrachten das Leben als eine Reise. Wir können auf dieser Reise viel entdecken: über uns selbst, die anderen und die Welt um uns herum. Wir können immer wieder neue Eindrücke und Erfahrungen sammeln. Wir können uns kreativ ausprobieren und entfalten. Wir können uns tief verbinden mit Menschen, der Natur, unserer Spiritualität, Leidenschaften und Tätigkeiten. Bei all dem können wir Glück bringenden Sinn erleben. Mehr als durch die nächste Anschaffung, das nächste Event, den neuen Rund-um-die-Uhr-Job, den nächsten großen finanziellen Erfolg, … mehr als alle am Außen und an einzelnen Erfolgsaspekten orientierte Bemühungen der persönlichen Optimierung. Damit würdigen wir letztlich die Komplexität unserer einzigartigen Potenziale nicht ansatzweise und reduzieren uns auf ein Objekt äußerer Erwartungen.
Sinn kann auch daraus erwachsen, dass nicht alle Reisestrecken angenehm, geschmeidig, leicht, sicher und grandios gut und schön sind. Zur Reise gehören auch die steinigen Wegstrecken in Form von Verletzungen, Enttäuschungen, Verlusten, Ängsten, Umbrüchen und Belastungen. Zur Reise gehören auch schicksalhafte und nicht vorhersehbare Verläufe. Abenteuer mit dem Risiko des nicht guten und erfolgreichen Ausgangs. Gerade sie führen uns zu essenziellen Lebensfragen. Was für ein Leben will ich leben? Welche Spuren möchte ich hinterlassen? Was soll bleiben, wenn ich gehe? Wer will ich sein? Welchen Werten will ich folgen? Was ist mein Beitrag in dieser Welt? Was ist wirklich wichtig? … Die Antworten darauf verändern etwas und uns selbst. So, dass neuer Sinn im anderen und neuen Blick auf uns selbst, die anderen und das Leben entstehen kann. Glück bedeutet, auch diese Wegstrecken gehen und bewältigen zu wollen, anstatt eine All-Inclusive-Dauer-Spaßreise zu buchen.
Auf dieser Reise des Lebens haben wir immer wieder die Möglichkeit, umzusteigen, umzubuchen, die Fahrtrichtung zu ändern, unsere Reisebegleitung zu wechseln, das Reiseziel neu zu definieren oder auch die Rückreise anzutreten. Wir können den Job kündigen, den Partner wechseln, die Familie verlassen, umziehen, auswandern, zurückkehren, mit dem „alten“ Partner noch mal von vorne beginnen oder wieder in den alten Job zurückkehren, … Wir könnten jederzeit entscheiden, uns ganz aus unserem Kontext zu verabschieden, auszusteigen und zu versuchen, als Selbstversorger ohne Einkommen zu (über)leben. Es ist gut, all diese Freiheiten zu haben. Dann, wenn die Reise uns tatsächlich nicht (mehr) guttut und eine Reiseänderung möglicherweise unsere einzige Chance ist.
Sinn aus Verantwortung
Vorschnelle Stornierungen, Umbuchungen und befristete Kurzurlaube sind dagegen eher wenig geeignet für Lebensglück, aber leider oft gängiges Reiseverhalten. Beziehungen und Verbindungen aller Art werden aufgekündigt, wenn die erste Euphorie sich verflüchtigt und der Alltag zu tiefer Auseinandersetzung mit Unterschieden, Eigenarten, Verantwortungen und Möglichkeiten auffordert. Im Dschungel der unendlich verfügbaren Alternativen gibt es schnellen Trost. Der unreflektierte Neustart bringt jedoch meist schnell die Enttäuschung des Alten im Neuen. Weil wir uns im Anspruch auf äußeren Erfolg während außergewöhnlicher Reise-Etappen und in der Suche nach Dauerglück verlaufen und darüber versäumen, die Sinn stiftende Übernahme der zeitgemäßen Verantwortung, die das Leben uns auferlegt, zu übernehmen.
Die Verantwortung, Sinn darin zu finden,
– das Leben anzunehmen und daran reifen, wachsen und sich entfalten zu wollen,
– sich unter Mühen für eine bessere Welt zu engagieren,
– mit Möglichkeiten zu „spielen“ und das (noch) Unvorstellbare vorstellbar zu machen,
– Gemeinschaft gestalten und gemeinsam Verantwortung tragen zu wollen,
– wahrhaftig und werteorientiert leben zu wollen,
– sich regelmäßig Zeit für die reflektierende Innenschau zu nehmen,
– Zeiten der Muße, des Erholens und der kreativen Entfaltung zu genießen
und mehr denn je bedeutsam:
Sinn darin zu finden, sich experimentell mit dem Blick nach vorne auf die Themen der jetzigen Zeit einlassen zu wollen. Wer das kann und will, bleibt in der Zeit und erlebt Sinn in der Gestaltung seines gegenwärtigen Lebens.
Wenn wir uns diesen Verantwortungen stellen, gilt, was der Philosoph Wilhelm Schmid in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT Nr. 41/2021 vom 06.10.2021 sehr treffend gesagt hat: „Wenn das Glück mal Pause macht, ist der Sinn noch da“.
Jeder Lebenstag ist ein Geschenk und wir haben die Verantwortung, ihn genau so zu behandeln. Achtsam, wertschätzend, dankbar und mit Freude und Neugier zu gestalten, was er an Aufgaben und Herausforderungen bereithält, etwas Gutes und Weiterführendes daraus zu machen und es zu genießen. Trotz einschränkender Bedingungen. So kommen wir der antiken Auffassung von Lebensglück sehr nahe. Dann verhalten wir uns in Selbstgenügsamkeit so, dass unser Leben gelingen kann. In der Annahme, dass Glück und Erfolg nicht ausnahmslos und nur in uns selbst zu finden sind. In der demütigen Achtung davor, dass die Dauer der Lebensreise unvorhersehbar und begrenzt ist.
© Julitta Rössler