Ich sitze mitten in den Vorbereitungen für ein zweitägiges Seminar zum Thema „Wachsen im Wandel“. Die Arbeit geht mir nicht leicht von der Hand. Im Gegenteil, sie kostet mich Willenskraft. Die letzten Wochen, Monate ja inzwischen über zwei Jahre haben auch mich mit für mich ganz persönlich erschütternden und zusätzlich mit den weltlich bedrohlichen Ereignissen aus meiner emotional positiven Stabilität gebracht. Auch der Profi hat in solcher Zeit Ängste, fühlt sich unsicher, ohnmächtig den Geschehnissen ausgeliefert und tut sich schwer mit einem positiven Blick nach vorne ins Ungewisse.
Was bringt uns alle so derartig aus dem inneren Gleichgewicht?
Die Welt verwandelt sich gerade. Jeder spürt es. Die vielfach herbeigesehnte alte Normalität will sich nicht einstellen. Stattdessen entstehen Veränderung, Umbruch und existenziell bedrohliche Krisen. Beinahe im Sekundentakt. So fühlt es sich jedenfalls an. Wandel für jeden Einzelnen in den alltäglichen Aspekten von Beruf und Privatleben. Für uns alle zusammen gesellschaftlich, ökologisch, ökonomisch. Für die Welt als Ganzes in ihrem Dasein als Grundlage unseres Lebens. An die Zukunft zu denken, macht momentan keinen Spaß. Sie sich positiv vorzustellen, fällt schwer.
Zuweilen fällt es mir deshalb jetzt auch schwer, an mein berufliches Leidenschaftsthema – Wachsen im Wandel – zu glauben. Manchmal erscheint es mir beinahe, als ob ich mich mit meinen Themen rund um Resilienz und Selbstentwicklung im „Wolkenkuckucksland“ bewege. Und doch sind es genau diese entwicklungsorientierten und psychologischen Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, wenn wir gestalten wollen, wie wir zukünftig leben wollen und können. Wenn wir zukünftig noch auf dieser Erde leben können wollen! Ja, so ernst ist es inzwischen!
Wozu ist persönliche Weiterentwicklung gerade jetzt wichtig?
Diese Welt braucht nicht nur eine bescheidenere Lebensweise von uns allen. Sie braucht auch Menschen, die eine hohen Reifegrad haben, sich persönlich stetig weiterentwickeln wollen und in der Lage sind, eine zweipolige Richtig-Falsch-Weltsicht abzulegen und gegen ein buntes, immer wieder in anderen Farben schillerndes Weltbild einzutauschen. Menschen, die insofern mit komplexen Fragen und Themen, für die es noch keine Antwort gibt, umgehen können und vielfältige Perspektiven einnehmen und tolerieren können. Menschen, die ihre ganze Kapazität an Potenzialen, Stärken, Ressourcen und positiven Energien auch in der Krise zum Einsatz bringen können, um eine unbekannte Zukunft visionär und wagemutig gestalten zu können. Menschen, die sich reflektieren können. Denn Selbstreflexion ist alles andere als banal. Sie bedeutet die erwachsene Haltung der Akzeptanz dessen, was gerade ist und die Bereitschaft, sich damit kreativ und wachstumsorientiert auseinandersetzen zu wollen. Reflexion bedeutet, offen zu sein für dynamische Entwicklungsprozesse, anstatt in der nur noch vermeintlich sicheren Komfortzone statisch zu verharren. Selbstreflexion braucht Mut und Neugier und ein Bild vom Menschen, als ein Wesen, dass nicht irgendwie ist, sondern bis zum letzten Atemzug im Werden begriffen ist.
Stärkung durch Selbstreflexion, aber wie?
Selbstreflexion basiert auf Fragen, die Stärken, Potenziale und Ressourcen öffnen können. Ein Beispiel für eine Frage, die auf die auch in der Krise vorhandenen Kräfte abzielt, ist beispielsweise diese:
Welche Stärken konnte ich in der Zeit der Pandemie oder während anderer schwieriger Phasen meines Lebens ausprägen und welche Stärken habe ich vielleicht sogar erst dadurch aufbauen und entwickeln können?
Oder als Reflexions-Anregung für ein persönliches Abend-Ritual:
Ich selbst bin mir auch eine Ressource!
Wofür kann ich mich heute anerkennen?
Welche meiner Stärken, Potenziale und Ressourcen konnte ich heute einsetzen?
Welche meiner Stärken, Potenziale und Ressourcen ist mir heute erstmalig bewusst geworden?
Für welche meiner Stärken, Potenziale und Ressourcen entscheide ich mich und setze sie gezielt am morgigen Tag ein?
Was sind posttraumatische Wachstumsschmerzen?
Wandlungsprozesse betreffen inzwischen jeden von uns. Nahezu alle meine Klient:innen haben jetzt Themen wie Unsicherheit, Ohnmacht, Zukunftsangst, existenzielle Angst und immer stärker auch Beziehungsschwierigkeiten und Einsamkeit im Gepäck des Lebensrucksacks dabei und laden sie als erstes aus. Das sind tief in ihrem Innen schmerzhafte, leidvolle und in höchstem Maß verunsichernde und Stress auslösende Prozesse. Diese Prozesse verändern Menschen bis in jede Körperzelle. Denn der Körper ist unser Erfahrungsgedächtnis. Die traumatischen Erfahrungen verankert er besonders fest.
So schlägt auch zuerst der Körper Alarm und zeigt, dass es ihm nicht mehr gut geht. Klient:innen klagen über Schlaflosigkeit, depressive Verstimmungen, innere Unruhe, Infektanfälligkeit und obendrein signalisiert ein nachweislich starker Anstieg therapeutisch relevanter psychischer Auffälligkeiten, dass Körper und Seele vieler Menschen gerade Schaden nehmen an der Verwandlung der Lebenswelt. Ich möchte diese schmerzhaften und unangenehmen Begleiterscheinungen gerne als Wachstumsschmerzen für posttraumatisches Wachstum sehen wollen.
Die gute Nachricht. Niemand ist allein mit seinem Wachstumsschmerz. Anderen geht es ebenso. Der Mensch ist ein soziales „Herdentier“ und es hilft, sich das zu vergegenwärtigen. Die schlechte Nachricht. Wege heraus aus dem tiefen Tal der Tränen muss jeder für sich selbst finden. Denn wir sind alle verschieden. Es gibt nicht den einen Lösungsweg für alle.
Zur ersten Beruhigung in den dunklen Phasen empfehle ich ein persönliches Mantra.
Beispielsweise:
Ja, es ist gerade sehr schwierig für mich.
Das ergeht vielen anderen jetzt auch so.
Ich werde jetzt fürsorglich und verständnisvoll mit mir selbst umgehen und mir geben, was mir guttut und mich stabilisiert.
Ich habe alles, was ich brauche, um wieder in positive Energie zurückzufinden und für mich wirksam zu werden.
Was hat Wachsen mit Trauerarbeit und Verlustbewältigung zu tun?
Verwandlung geht einher mit Abschieden, Verlusten und der damit verbundenen Trauer. Ängste, Schmerz und Leid zuzulassen, zu akzeptieren und zu durchleben, um sie gut verarbeitet und versöhnlich loslassen zu können, das ist beinahe überlebensnotwendig geworden. Dafür braucht es Zeit. Denn, wenn diese urmenschlichen Basisgefühle nicht durchlebt werden, holen sie uns immer wieder ein und verhindern, dass wir uns positiv weiterentwickeln und wachsen. Eine von mir sehr geschätzte Lehrdozentin, Sigrun Ritzenfeldt-Turner, http://www.ritzenfeldt-turner.de, in meiner Fortbildung zur Transaktionsanalyse im Odenwald-Institut, https://www.odenwaldinstitut.de/index.htm beschrieb es sehr schön so: „Gefühle, die nicht erlebt und durchlebt werden, gehen in den Keller, üben dort Gewichtheben und kommen dann dreimal so stark wieder zu uns hoch.“
Meines Erachtens wird den für psychische Gesundheit in Veränderungsprozessen wichtigen Abschiedsprozessen viel zu wenig Bedeutung beigemessen. Abschiede, Verluste und Krisen greifen das Selbstbewusstsein an. Wer es nicht verteidigt, wird untergehen. So umschreibt es Wolf Lotter, Redakteur bei brandeins, Buchautor, Transformationsspezialist, … in seinem Newsletter für die Zeitschrift brandeins treffsicher. Ohne Selbstbewusstsein kommen wir nicht wieder in unsere Kraft und können unsere Kapazitäten nicht entfalten, die wir gerade jetzt so dringend brauchen.
Menschen, deren Arbeitswelt sich vollständig verändert hat, die Krankheit durchlebt und vielleicht einen wertvollen nahen Menschen verloren haben, deren Beziehungen Schaden genommen haben in der Coronazeit, die Freundschaften verloren haben, die Kriegstraumata erneut im Angesicht des Ukraine-Krieges durchleben, die ihren Job verloren haben und existenziell in Not geraten sind, die mit den sich abzeichnenden Kostenexplosionen und wirtschaftlichen Entwicklungen nicht umgehen können werden, die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder haben, … können diese Kraft nicht mehr spüren. Das alles ist augenblicklich Realität und bedeutet Verlust von sicherem „Boden unter den Füßen“. Wir leben permanent in der Gefahrenzone. Daran müssen wir uns erst gewöhnen, bevor wir uns mit der Welt mit verwandeln können. Es wird dauern.
Professionelle Begleitung bedeutet für mich in diesen Tagen deshalb, zuallererst die Begleitung beim Abschied nehmen von Vertrautem. Immer mit dem Blick wieder in Richtung eines gelingenden Lebens mit der Chance zu neuer Freude, Leichtigkeit und persönlichem Wachstum. Das ist nicht einfach, aber auch nicht unmöglich. Die Arbeit daran lohnt sich. Denn Potenziale entfalten, innere Stärke, positive Selbststeuerung, wesensgemäß wieder Erblühen…. eben Resilienz-Kompetenzen sind entscheidend dafür, wie selbstwirksam und positiv wir das Leben jetzt und für die Zukunft gestalten können.
Ist die Suche nach dem gelingenden Leben in Krisen Scharlatanerie?
Wie soll das jetzt aber möglich sein im Angesicht der aktuellen Themen? Grenzt es nicht an Scharlatanerie, in dieser Zeit mit Klient: innen am gelingenden und guten Leben zu arbeiten? Ist das nicht respektlos ihren schweren Sorgen und Nöten gegenüber? Ich meine Nein. Und doch sind es Fragen, die mich verunsichern und meine eigene Fähigkeit zur Selbstreflexion herausfordern. Deshalb brauche ich manchmal Willenskraft für die Vorbereitung von Themen und Veranstaltungen.
Durch meinen Beruf finde ich leichter und schneller Zugriff auf die „Werkzeuge“ für eine Rückkehr zurück zu positiver Energie. Dafür bin ich jetzt unendlich dankbar. Denn diese Energie brauche ich. Für mich selbst und um meinen Klient:innen mit ihren gerade leidvollen Themen professionell als Wegbegleiterin und SPURENsucherin FÜR LebensWANDEL zur Seite stehen zu können. Beim Abschied nehmen ebenso wie beim wieder Erblühen und Wachsen.
Dennoch ist es manchmal auch für mich schwer geworden, mit Menschen an einer positiven und entwicklungsorientierten Lebensausrichtung zu arbeiten. Und doch halte ich es besonders jetzt für den einzigen und einen äußerst sinnvollen Weg. Denn es kommt darauf an, wie wir unter Berücksichtigung enger werdender Grenzen und einschränkender, ja sogar existenziell bedrohlicher Bedingungen gut leben wollen und können.
Diese Welt braucht eine bescheidenere Lebensweise und wir werden lernen müssen, uns einzuschränken. Auch das bedeutet Abschied, Verlust und die damit einhergehende Trauerarbeit. Erst danach kann sich der Horizont für neue und kreative Lösungen, ja vielleicht sogar Zukunfts-Utopien öffnen. Abschied, Loslassen und frei werden von Altem ist der erste entscheidende Schritt, um mit freigeistigen, utopischen und gänzlich neuen Ansätzen experimentieren zu können. Ohne diesen Schritt sind die Menschen überfordert. Da helfen die besten Techniken, Methoden, Tools und Life-Hacks nicht. Wer sich unsicher oder gar ohnmächtig fühlt, und das Alte nach wie vor nicht loslassen will, ja sogar auf seine Wiederbelebung hofft, ist noch nicht bereit für neuen Sinn und gänzlich neue Möglichkeiten ohne bisheriges Erfahrungsfundament damit. Er braucht zuerst wieder ein sicheres Gefühl für seine eigenen Ressourcen und Potenziale. Vorher funktioniert der Sprung ins vollkommene Ungewisse nicht. Mein Appell an alle Führungskräfte, Berater, Coaches und persönliche Wegbegleiter:innen. Gebt den Menschen Zeit auch für den Abschied von Vertrautem, um stabil ins Wachstum und in ihre volle kreative Kapazität und Flexibilität finden zu können.
Wozu braucht es positive Emotionen in Krisenzeiten?
Mir klingen immer wieder die Worte einer Freundin vor vielen Jahren in den Ohren, als sie entschied, ihr vertrautes Leben zu verlassen und sich in einen völlig neuen und für sie bis dato unbekannten Lebenskontext in einer fremden Kultur zu wagen. Beim Abschied sagte sie: „Wovor soll ich Angst haben? Ich nehme doch mich selbst mit!“ Das ist es, was den Horizont weitet, Blockaden und Ängste in positive Energie verwandelt und Zutrauen in die eigene Wirksamkeit gibt. Aus dem evolutionär geprägten auf Gefahr ausgerichteten Tunnelblick entstehen keine neuen Lösungen und Ideen. Dafür brauchen wir einen weiten Blick. Der wiederum kann nur auf dem Fundament wieder positiver Emotion entstehen. Erst dann können wir gänzlich Neues finden und unsere Zukunft auch unter schwersten Bedingungen und Einschränkungen positiv gestalten. Vorausgesetzt Altes konnte versöhnlich losgelassen werden.
Barbara Frederickson, Professorin für Psychologie an der University of North Carolina, Buchautorin u. a. Die Macht der guten Gefühle. Wie eine positive Haltung ihr Leben dauerhaft verändert. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2011, drückt es in ihrer Definition von Resilienz sehr treffend aus:
Resilienz bedeutet, in der Krise AUCH das Positive wahrnehmen zu können.
Diese Definition beschreibt eine sinnvolle und gute Balance zwischen dem Blick auf Risiken und gleichzeitig auf Positives und Chancen. Das ist alles andere als der Blick durch eine verklärte und naive rosarote Brille einer toxischen Positivität.
Potenzialentfaltung basiert auf positiven Emotionen (Broaden-Built-Theorie). Ein Weg, dafür zu sorgen, dass positive Emotionen eine Chance haben, wahrgenommen zu werden, kann beispielsweise sein, sich täglich, auch in schwer bewältigbaren Krisensituationen, Zeit zu nehmen, etwas zu tun, das tatsächlich Freude macht, guttut, die Seele beruhigt, … Das können in Krisenzeiten kleine Aspekte des Lebens sein, wie beispielsweise ein tägliches Ritual, eine Tasse Kaffee zu genießen, morgens erst nach dem Frühstück in das Handy zu schauen, regelmäßig einen Spaziergang in der Natur zu machen, … Allein das Erleben von kurzen Zeiten des Wohlgefühls reguliert negative biochemische Prozesse im Körper, ermöglicht Zuversicht und Hoffnung und gibt das Gefühl von „Ich kann etwas tun“.
Eine weitere bewährte Methode, um positive Emotionen zu fördern, ist die konkrete Planung positiver Aktivitäten. Hierzu kann man sich eine möglichst umfangreiche Liste von Aktivitäten, die man als wohltuend und beglückend erlebt, anfertigen. Anschließend geht es darum, ein tägliches Zeitfenster von 15 -20 Minuten für einen „Miniurlaub“ fest zu reservieren, in dem eine dieser Aktivitäten realisiert wird.
Verlustbewältigung und gleichzeitig die Unterstützung positiver Emotionen durch diese und andere Übungen kann ein entscheidender Schlüssel sein, um die psycho-emotionalen Grundlagen für die Förderung posttraumatischen Wachstums zu schaffen.
Gerade jetzt kommt psychologisch kompetenten Coaches und Beratern hier eine Schlüsselrolle mit großer Verantwortung zu. Und damit die Chance auf sinnstiftendes Tun und einen Beitrag für eine menschlichere und bessere Welt. Nicht ohne Grund sage ich seit langer Zeit, es ist für mich der schönste Beruf der Welt!
Gerne begleite ich Sie auf Ihren SPUREN FÜR LebensWANDEL.
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© Julitta Rössler